BAG: Dem Verfall eines Anspruchs kann der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen

BGB §§ 242, 254

Dem aufgrund einer Ausschlussklausel grundsätzlich eintretenden Verfall von Ansprüchen steht der Grundsatz von Treu und Glauben nicht nur dann entgegen, wenn der Schuldner den Gläubiger aktiv von der Einhaltung der Ausschlussfrist abhält, sondern auch dann, wenn der Schuldner dem Gläubiger die Geltendmachung des Anspruchs oder die Einhaltung der Frist durch positives Tun oder durch pflichtwidriges Unterlassen erschwert oder unmöglich gemacht hat. (Orientierungssatz der Richterinnen und Richter des BAG)

BAG, Urteil vom 28.06.2018 - 8 AZR 141/16 (LAG Hamm), BeckRS 2018, 29489

Anmerkung von
RA Dr. Frank Merten, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 49/2018 vom 13.12.2018

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Sachverhalt

Die Beklagte war bei der Klägerin als Leiterin der Buchhaltung beschäftigt. Zwischen Juni 2009 und Januar 2013 veranlasste sie eine Vielzahlung von Überweisungen an Freunde und Bekannte i.H.v. insgesamt rund 4 Mio. EUR, ohne dass es einen Rechtsgrund für diese Zahlungen gab. In einem Schreiben vom 18.4.2013 räumte die Beklagte die unrechtmäßigen Überweisungen ein und erklärte, sie werde das Geld schnellstmöglich zurücküberweisen. In der Folgezeit gab es Korrespondenz sowie Gespräche zwischen den Parteien über die Modalitäten einer Schadenswiedergutmachung. Mit Klage vom 19.12.2013 forderte die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz i.H.d. rund 4 Mio EUR. Der Arbeitsvertrag der Parteien enthält eine Verfallklausel, nach der Ansprüche aus dem Dienstverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Das ArbG hat der Klage stattgegeben, das LAG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Entscheidung: Kein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers

Das BAG hat die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führt es aus, die Klägerin müsse sich kein anspruchsminderndes Mitverschulden anrechnen lassen. Das LAG habe in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG zutreffend angenommen, dass ein etwaiges fahrlässiges Mitverschulden der Klägerin jedenfalls hinter das Verschulden der Beklagten, die vorsätzlich gehandelt habe, zurücktreten müsse (Rn. 35).

Dem Schadensersatzanspruch der Klägerin stehe auch die Ausschlussfrist aus dem Arbeitsvertrag nicht entgegen. Dabei könne dahinstehen, ob die Verfallklausel wirksam ist und ob die Klägerin ihre Ansprüche insgesamt innerhalb der Verfallfrist ordnungsgemäß geltend gemacht habe. Jedenfalls stehe einem etwaigen Verfall der Ansprüche der Klägerin der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegen. Der Einwand, eine Frist für die Geltendmachung eines Anspruchs sei nicht gewahrt, greife generell in solchen Fällen nicht durch, in denen sich eine Partei damit in Widerspruch zu ihrem eigenen vorausgegangenen Verhalten setzt und für die andere Partei ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (Rn. 38). Ebenso lägen die Dinge hier. Zum einen habe die Beklagten die bei der Klägerin bestehenden Schutzmechanismen bewusst dadurch ausgeschaltet, dass sie sich die erforderliche zweite elektronische Signatur „besorgt“ und eine weitere Kontrolle verhindert habe. Damit habe sie eine zeitnahe Aufdeckung ihrer Vertragsverstöße blockiert und damit bewusst ein früheres Einschreiten der Klägerin und eine frühere Geltendmachung ihrer Schadensersatzansprüche vereitelt. Hinzu käme, dass die Beklagte nach Aufdeckung der Straftaten mehrfach ihre Verantwortlichkeit dem Grunde nach eingeräumt und gezielt den Eindruck erweckt habe, sie wolle alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um den Schaden auszugleichen.

Schließlich könne die Beklagte auch nicht einwenden, sich zur Schadenswiedergutmachung erst bereit erklärt zu haben, nachdem die Ausschlussfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Dies treffe nicht zu, da die Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht vor dem 18.04.2013 fällig geworden seien. Ein Schadensersatzanspruch sei erst dann im Sinne einer Ausschlussfrist fällig, wenn der Schaden für den Gläubiger feststellbar ist und geltend gemacht werden kann (Rn. 43). Feststellbar sei der Schaden, sobald der Gläubiger vom Schadensereignis Kenntnis erlangt oder bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt Kenntnis erlang hätte. Schadensersatzforderungen könnten geltend gemacht werden, sobald der Gläubiger in der Lage ist, sich den erforderlichen Überblick ohne schuldhaftes Zögern zu verschaffen und er seine Forderungen wenigstens annähernd beziffern kann.

Praxishinweis

Mit seiner Entscheidung führt das BAG seine Rechtsprechung zum Einwand der unzulässigen Rechtsausübung bei der Anwendung von Verfallfristen fort (vgl. BAG, ArbRAktuell 2018, 183 m. Anm. Scholz; NZA 2007, 526). Angesichts der mit hoher krimineller Energie begangenen Pflichtverletzungen der Beklagten und ihres geradezu dreisten Versuchs, sich trotz vorangegangener Beteuerungen der Schadenswiedergutmachung auf die Verfallfrist berufen zu wollen, haben die Arbeitsgerichte einen Verfall der Ansprüche im vorliegenden Fall zu Recht abgelehnt. Gleichwohl kann den Anspruchsberechtigten im Allgemeinen nur geraten werden, ihre Ansprüche rechtzeitig vor Ablauf einer Verfallfrist ordnungsgemäß geltend zu machen.

Redaktion beck-aktuell, 17. Dezember 2018.