BAG: Bezugnahme auf Branchentarifverträge ist nicht als Verweis auf Haustarifverträge zu interpretieren

TVG §§ 3 I, 4 I, BGB §§ 305 ff.

Arbeitsvertragliche Bezugnahmen auf jeweils geltende Einzelhandelstarifverträge erfassen nicht die Haustarifverträge des vertragsschließenden Einzelhandelsunternehmens.

BAG, Urteil vom 11.07.2018 - 4 AZR 533/17 (LAG Hamm), BeckRS 2018, 26297

Anmerkung von
RAin Dr. Katrin Haußmann, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 45/2018 vom 15.11.2018

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Sachverhalt

Die Klägerin stützte Vergütungsansprüche gegen ihren Arbeitgeber auf die regional einschlägigen Flächentarifverträge für den Einzelhandel. Der Arbeitgeber, ein Einzelhandelsunternehmen, war zum Zeitpunkt des Arbeitsvertragsschlusses mit der Klägerin im Jahr 2005 Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes. In diesem Verband hatte der Arbeitgeber als Verbandsmitglied im Jahr 2015 seine Mitgliedschaft umgewandelt in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) und danach mit der Gewerkschaft ver.di, die auch Tarifpartner der Flächentarifverträge war, einen sog. Zukunfts-TV abgeschlossen, der zu Lasten der Arbeitnehmer Abweichungen von den Vergütungsregeln der Flächentarifverträge regelte. Der Arbeitsvertrag der Klägerin aus dem Jahr 2005 verwies auf die „jeweils geltenden Tarifverträge des Einzelhandels und die Gesamtbetriebsvereinbarungen bzw. die Betriebsvereinbarungen in der jeweils gültigen Fassung“. Auf diese Verweisung stützte die Klägerin ihre Forderungen. Der Arbeitgeber verstand die arbeitsvertragliche Bezugnahme als Verweis auf die für den Arbeitgeber maßgeblichen Tarifverträge des Einzelhandels. Dazu gehörte auch der Haustarifvertrag des Arbeitgebers. Die Klausel beschränke die Verweise nicht auf Verbandstarifverträge.

ArbG und LAG wiesen die Klage ab. Das LAG ließ die Revision der Klägerin zu.  

Entscheidung: Bezugnahmeklausel erfasst nicht die Haustarifverträge

Das BAG hielt die Revision der Klägerin für begründet. Die Klägerin konnte ihre Ansprüche auf die Flächentarifverträge stützen, weil ihr Arbeitsvertrag aus dem Jahr 2005 auf dieses Tarifvertragswerk in seiner jeweils geltenden Fassung verwies. Die arbeitsvertragliche Verweisung konnte nach den Feststellungen des Senats die tariflichen Ansprüche begründen, auch nachdem die Voraussetzungen einer unmittelbaren und zwingenden Wirkung nicht mehr vorlagen, nachdem die Beklagte ihre Mitgliedschaft in eine OT-Mitgliedschaft umgewandelt hatte. Das Gericht bewertet den arbeitsvertraglichen Verweis auch auf Betriebsvereinbarungen als eine Wiedergabe der Rechtslage. Dieser deklaratorischen Regelung käme in der Auslegung der Bezugnahmeklausel auf Tarifverträge keine Bedeutung zu. Die Bezugnahmeklausel enthielt keinen Hinweis darauf, dass mit „Tarifverträge des Einzelhandels“ auch Haustarifverträge des Arbeitgebers gemeint sein könnten, eines Einzelhandelsunternehmens.

Praxishinweis

Die Rechtsprechung des 4. Senats zur Auslegung von Bezugnahmeklauseln ist seit den frühen 90er Jahren wechselhaft. Mit einer zentralen Kehrtwende mit dem Urteil vom 14.12.2005 (NZA 2006, 607) differenzierte der Senat zwischen Alt- und Neuverträgen. Für diese zwei verschiedenen Gruppen ergaben sich aus einer Vielzahl von Entscheidungen, insbesondere für die Fallgruppe des Arbeitgeberwechsels, der Ausgliederung und des Verbandsaus-tritts Differenzierungen, die der Praxis Berechenbarkeit lieferten.

Die vorliegende Entscheidung bedeutet einen neuen Umschwung, auf den die Praxis sich wird einstellen müssen. Dass die Entscheidung eine Änderung der Rechtsprechung bedeutet, ist in den Entscheidungsgründen eher beiläufig erwähnt, ohne dass sich der Senat mit der Begründung dieser anderslautenden Entscheidungen vom 23.1.2008 (FD-ArbR 2008, 262312) und 23.3.2005 (NZA 2005, 1003) auseinandersetzen würde. In seiner Entscheidung vom 23.3.2005 hatte der Senat Orientierungssätze formuliert, zu denen die vorliegende Entscheidung im offenen Widerspruch steht. Dort hieß es im 6. Orientierungssatz:

Mit einer vom Arbeitgeber in einem Formulararbeitsvertrag vorformulierten Verweisungsklausel werden die fachlich und betrieblich einschlägigen Tarifverträge in Bezug genommen. Dies sind regelmäßig die spezielleren Tarifverträge, insbesondere Firmentarifverträge.“

In den Entscheidungsgründen wird diese typisierte Auslegung insbesondere auch darauf gestützt, dass in der arbeitsvertraglichen Verweisungsklausel zugleich auch auf Betriebsvereinbarungen verwiesen wurde und damit zum Ausdruck gekommen sei, dass es gerade auf die Vereinbarung der für den Betrieb einschlägigen Rechtsnormen ankam.

Welche Gründe den Senat veranlasst haben, von dieser Rechtsprechung Abstand zu nehmen, ist den Entscheidungsgründen bedauerlicherweise nicht zu entnehmen. Dadurch ergeben sich Rechtsunsicherheiten jedenfalls für die Fälle, in denen eine am Regelungszweck orientierte Auslegung von Bezugnahmeklauseln zu einem anderen Ergebnis führen würde als eine wortlautgetreue Auslegung.

Redaktion beck-aktuell, 19. November 2018.