BAG: Fahrt von zuhause zum Kunden als (vergütungspflichtige?) Arbeitszeit

ArbZG § 2; MiLoG § 1; BGB § 611

Hat der Arbeitnehmer seine Tätigkeit an einer auswärtigen Arbeitsstelle zu erbringen, sind die Fahrten zu den Kunden und zurück Arbeitszeit und damit mindestlohnpflichtig, egal ob Fahrtantritt und Fahrtende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen.

BAG, Urteil vom 25.04.2018 - 5 AZR 424/17 (LAG Hamburg), BeckRS 2018, 17272

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Martin Diller, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 35/2018 vom 06.09.2018

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Sachverhalt

Der Kläger war als Aufzugsmonteur beschäftigt. Für die ihm obliegende Wartung, Montage und Reparatur von Aufzugsanlagen stellte ihm die beklagte Arbeitgeberin ein mit den erforderlichen Werkzeugen und Ersatzteilen bestücktes Kraftfahrzeug zur Verfügung, das der Kläger auch privat nutzen durfte. Die Beklagte wies ihren Monteuren monatlich die jeweils zu wartenden Aufzugsanlagen in Sammelaufträgen zu. Die Monteure konnten sich frei einteilen, an welchen Tagen und in welcher Reihenfolge sie welche Kunden aufsuchten. Der Kläger fuhr morgens von seiner Wohnung zum ersten Kunden des Arbeitstags und vom letzten Kunden des Tages nach Hause zurück. Den Betrieb der Arbeitgeberin suchte der Kläger nur gelegentlich zur Versorgung mit Ersatzteilen sowie für Besprechungen auf.

Der Kläger verlangte auch für die Zeit der ersten Fahrt zum Kunden morgens und zurück vom letzten Kunden des Tages nach Hause die tarifliche Vergütung.

Entscheidung

Die Klage blieb in allen Instanzen erfolglos.

Allerdings gab das BAG dem Kläger dahingehend Recht, dass die Zeit der ersten Fahrt morgens von zuhause zum ersten Kunden ebenso wie die letzte Fahrt des Tages vom letzten Kunden zurück nach Hause Arbeitszeit i.S.d.. EU-Arbeitszeitrichtlinie und damit auch des ArbZG sei. Dem stehe nicht entgegen, dass an sich die Fahrt des Arbeitnehmers zur Betriebsstätte Privatangelegenheit und damit keine Arbeitszeit sei. Denn wenn es keine Betriebsstätte gebe, gehörten auch die Fahrten zu einer auswärtigen Arbeitsstelle zur Arbeitszeit.

Allerdings sei nach den für den konkreten Arbeitgeber einschlägigen tariflichen Regelungen eine Vergütung für die morgendliche Anfahrt und die abendliche Rückfahrt von und zum ersten bzw. letzten Kunden nicht geschuldet. Dies ergebe sich aus der Auslegung des Tarifvertrags. Allerdings könne der Tarifvertrag nicht über den gesetzlichen Mindestlohn disponieren. Deshalb seien die betreffenden Fahrten mindestlohnpflichtig. Allerdings bedeute dies nicht, dass für diese Zeiten Mindestlohn zusätzlich zum sonst geschuldeten Tarifentgelt zu zahlen sei. Vielmehr sei es ausreichend, wenn das tarifliche Gesamtentgelt, geteilt durch alle Arbeitszeitstunden einschließlich der An- und Rückfahrten, höher sei als der gesetzliche Mindestlohn. Das war vorliegend der Fall.

Praxishinweis

Das Urteil liegt voll auf der Linie der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere von dessen Urteil vom 10.09.2015 (ArbRAktuell 2015, 451 m. Anm. Feldmann). Ihm ist in jeder Hinsicht zuzustimmen.

Zwar befremdet es, dass danach der Arbeitnehmer besser steht, wenn es keine Betriebsstätte gibt und er unmittelbar zum ersten Kunden fährt. Denn müsste der Arbeitnehmer erst in die Betriebsstätte fahren und würde er erst dort in seinen Dienstwagen umsteigen und zu den Kunden fahren, würde erst in diesem Moment seine Arbeitszeit beginnen. Je nach Einteilung und Lage der Fahrten steht der Arbeitnehmer also vergütungsmäßig erheblich besser, wenn der Arbeitgeber auf die Einrichtung einer Betriebsstätte verzichtet und die Kundendienstmitarbeiter direkt von zuhause losfahren lässt. Dies ist aber, wie das BAG ebenso wie der EuGH richtig entschieden hat, schlicht eine Folge der arbeitgeberseitigen organisatorischen Entscheidungen.

Wichtig ist, dass sich das Urteil unmittelbar nur auf die Frage der Arbeitszeit und damit der Arbeitszeitmenge bezieht. Unmittelbare vergütungsrechtliche Konsequenzen hat es solange nicht, wie das „normale“ Gehalt deutlich über dem Mindestlohn liegt. Deshalb ist zu begrüßen, dass das BAG noch einmal unterstreicht, dass weder aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie noch aus dem ArbZG Vergütungsansprüche abgeleitet werden können. Das wird in der Praxis oft verkannt. Nicht jede Stunde, die Arbeitszeit ist, muss automatisch auch zusätzlich bezahlt werden. Nur muss halt in der Gesamtheit aller Arbeitszeitstunden zusammen der gesetzliche Mindestlohn erreicht werden.

Redaktion beck-aktuell, 11. September 2018.