BAG: Fristversäumnis wegen fehlerhafter Adressierung der Berufungsschrift bei gemeinsamer Einlaufstelle mehrerer Gerichte

ArbGG §§ 9 V 4, 66 I, 77 S.1, 4; ZPO §§ 85 II, 97 I, 575; GKG § 63

Ein bei einer gemeinsamen Einlaufstelle mehrerer Gerichte eingegangener Schriftsatz geht bei dem Gericht ein, an das er adressiert ist. Geht ein fristgebundenes Rechtsmittel bei einem anderen als dem zuständigen Gericht ein, ist dieses grundsätzlich nur verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Mit einer Weiterleitung noch am selben Tag kann die Partei nicht ohne weiteres rechnen. Die Unvollständigkeit der Rechtsmittelbelehrung löst die Jahresfrist des § 9 V 4 ArbGG nur aus, wenn der Rechtsmittelführer durch die Unvollständigkeit beschwert ist.

BAG, Beschluss vom 22.08.2017 - 10 AZB 46/17 (LAG Thü-ringen), BeckRS 2017, 124487

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Stefan Lingemann, Gleiss Lutz, Berlin

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 39/2017 vom 5.10.2017

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Sachverhalt

Das vom ArbG Erfurt am 12.06.2015 verkündete klageabweisende Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigen des Klägers am 10.07.2015 zugestellt. Die Rechtsmittelbelehrung verwies für die Berufungseinlegung nur auf die Monatsfrist nach Zustellung, nicht aber auf die Fünf-Monatsfrist nach Verkündung des Urteils.

Dieser legte mit einem an das ArbG Erfurt adressierten Schriftsatz Berufung ein, welchen er am 10.08.2015 gegen 15:00 Uhr per Telefax an das ArbG Erfurt übermittelte. Noch am Abend desselben Tages warf er auch den an das ArbG Erfurt adressierten Berufungsschriftsatz im Original in den Nachtbriefkasten des Justizzentrums Erfurt ein, der eine gemeinsame Posteingangseinrichtung des ArbG Erfurt, des LAG Thüringen und anderer Justizbehörden ist. Das ArbG Erfurt leitete am 11.08.2015 die Berufung des Klägers formlos an das im selben Gebäude befindliche LAG Thüringen weiter.

Mit Beschluss vom 18.04.2017 hat das LAG Thüringen die Berufung des Klägers als verspätet verworfen, da diese erst nach Ablauf der Monatsfrist des § 66 I ArbGG eingegangen sei.

Entscheidung

Die Revisionsbeschwerde des Klägers hatte keinen Erfolg.

Der Kläger hat, so der 10. Senat, die am 10.08.2015 ablaufende Monatsfrist zur Einlegung der Berufung nach §§ 64 I, 66 I 1 ArbGG versäumt. Die Berufungsschrift sei nicht bis zum Ablauf des 10.08.2015 in die Verfügungsgewalt des LAG gelangt, sondern nur beim ArbG eingegangen. Die fehlerhafte Adressierung sei auch nicht ohne weiteres erkennbar gewesen.

Gehe ein Schriftsatz so rechtzeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden könne, dürfe die Partei darauf vertrauen, dass der Schriftsatz rechtzeitig eingehe.

Der Kläger habe hingegen nicht darauf vertrauen dürfen, dass der am 10.08.2015 gegen 15:00 Uhr beim ArbG Erfurt als Telefax eingegangene Schriftsatz noch am selben Tag an das LAG weitergeleitet wird. Sofern der Kläger darauf verweise, dass bis Dienstschluss um 16:00 Uhr noch ausreichend Zeit zur Weiterleitung bestanden hätte, insbesondere da sich beide Gerichte im selben Gebäude befänden, begründe die verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift. Es liege im Verantwortungsbereich der Verfahrensbeteiligten und ihrer Prozessbevollmächtigten, die Formalien einzuhalten. Das ArbG habe den Schriftsatz offenkundig nicht vor dem 11.08.2015 an das LAG weiterleiten können.

Auch eine etwaige Unvollständigkeit der Rechtsmittelbelehrung löse die Jahresfrist des § 9 V 4 ArbGG nicht aus. Da das Urteil bereits nach 4 Wochen zugestellt wurde, sei der Kläger durch den fehlenden Hinweis auf die Fünf-Monats-Frist des § 66 I 1 ArbGG nicht beschwert. Für eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand seien keine Gründe dargetan.

Praxishinweis

Spätestens seitdem entgegen der früheren Rechtslage die Frist zu Begründung der Berufung völlig unabhängig vom Zeitpunkt der Berufungseinlegung abläuft, gibt es keinen Grund mehr, Berufung „auf den letzten Drücker“ einzulegen.

Zumal – „haste makes waste“ – die Gefahr von Fehlern unter Zeitdruck besonders hoch ist, wie der vorliegende Fall erneut beweist.

Redaktion beck-aktuell, 12. Oktober 2017.