BAG: Außerordentliche Verdachtskündigung wegen sexueller Belästigung

BGB §§ 626 I, II; ZPO § 286; AGG § 3 IV

1. Entscheidungen im Strafverfahren binden die über die Wirksamkeit einer (Verdachts-)Kündigung befindenden Gerichte für Arbeitssachen nicht.

2. Eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein vom Arbeitnehmer gezeigtes strafbares Verhalten oder eine sonstige erhebliche Pflichtwidrigkeit kann sich daraus ergeben, dass ein oder mehrere Zeugen übereinstimmend ein bestimmtes Verhalten ähnlichen Inhalts schildern.

3. Die Gerichte für Arbeitssachen haben von sich aus zu prüfen, ob unstreitige und nachgewiesene Tatsachen zur Rechtfertigung einer Tatkündigung ausreichen.

BAG, Urteil vom 02.03.2017 - 2 AZR 698/15 (LAG Düsseldorf), BeckRS 2017, 118992

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 33/2017 vom 24.08.2017

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Sachverhalt

Der Kläger, ein Grieche, war seit 1986 an einer griechischen Grundschule in W. als Lehrkraft tätig. Im Arbeitsvertrag ist die Anwendung deutschen Rechts vereinbart.

Am 18.12.2008 teilten die Eltern der Schülerin G der Schulleitung mit, der Kläger habe ihre Tochter auf den Schoß genommen und sie unterhalb der Kleidung im Gesäßbereich sowie zwischen den Beinen gestreichelt. Der Kläger gab auf Befragung an, die Schülerin in den Arm genommen und ihr dabei an das Gesäß gefasst zu haben. Noch im Dezember 2008 meldeten sich die Eltern der Schülerin O. Sie berichteten, sie hätten sich bereits im Jahr 2006 über eine sexuelle Belästigung ihrer Tochter durch den Kläger beschwert.

Im Januar 2009 erstattete der Prozessbevollmächtigte der beklagten Republik im Namen und im Auftrag der Eltern der Schülerinnen G und O Strafanzeige gegen den Kläger. Strafanzeigen von den Eltern zweier weiterer Schülerinnen folgten bis Ende 2009. Vier Kolleginnen des Klägers erinnerten sich an ähnliche Beschwerden von Schülerinnen.

Im Mai 2010 wurde gegen den Kläger Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sechs Fällen erhoben. Am 26.5.2010 erhielten Vertreter der beklagten Republik Einsicht in die Ermittlungsakten. Der Kläger, der Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 28.05.2010 erhalten hatte, äußerte, es handele sich um ein Komplott.

Mit Schreiben vom 08.06.2010 kündigte die beklagte Republik das Arbeitsverhältnis fristlos wegen des Verdachts sexueller Belästigungen mehrerer Schülerinnen. Das AG sprach den Kläger im März 2011 gem. dem Anklagevorwurf schuldig. Das LG sprach ihn hingegen rechtskräftig frei. Die Kündigungsschutzklage des Klägers blieb dagegen in den Vorinstanzen erfolglos.

Entscheidung

Die zugelassene Revision ist begründet. Mit der gegebenen Begründung hätte das LAG die Kündigung nicht für rechtmäßig erklären dürfen. Dies führe zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung an das LAG.

Zwar sei es nicht zu beanstanden, dass das LAG eine Wirksamkeit der Kündigung trotz des Freispruchs in Erwägung gezogen habe. Seine Entscheidung beruhe aber auf unzureichenden Feststellungen zum Sachverhalt. Die vorgenommene Beweiswürdigung lasse nicht erkennen, dass die Voraussetzungen und Grenzen von § 286 I ZPO eingehalten seien. Der Senat könne nicht abschließend beurteilen, ob ein wichtiger Grund iSv. § 626 I BGB vorliege. Das LAG werde zu prüfen und zu bewerten haben, ob die Kündigung bereits aufgrund nachgewiesener Pflichtverletzung iS. einer „Tat“ gerechtfertigt sei. Dabei komme es nicht entscheidend darauf an, ob das Verhalten als sexuelle Belästigung iSv. § 3 IV AGG zu werten sei. Auch in den zugestandenen Berührungen liege eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung. Der Behandlung als Tatkündigung stehe nicht entgegen, dass die beklagte Republik die Kündigung als Verdachtskündigung erklärt habe. Auch komme dem LAG bei der Frage, ob eine Abmahnung ausgereicht hätte, ein tatrichterlicher Beurteilungsspielraum zu. Hinsichtlich der Wahrung der Kündigungserklärungsfrist gem. § 626 II BGB sei die bisherige Würdigung des LAG rechtsfehlerfrei.

Praxishinweis

Der Entscheidung, die nichts Neues enthält, vermag ich zu folgen. Richtig ist vor allem der Hinweis, das LAG sei nicht daran gehindert, von einer Tatbegehung auszugehen. Das lässt die Wirksamkeit der Kündigung unberührt, denn die Gewissheit belegt die Begründetheit des Verdachts (BAG, NZA 2004, 307). Damit ist der Weg für das LAG relativ leicht, am bisherigen Ergebnis festzuhalten. Das Urteil muss nur besser begründet werden.

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Redaktion beck-aktuell, 28. August 2017.