Im Strafrecht bekam wohl keine Entscheidung eine größere mediale Aufmerksamkeit als die des BVerfG im "Mordfall Frederike". "Rechtssicherheit vor Gerechtigkeit" urteilte das Gericht im Oktober und kippte eine umstrittene Gesetzesänderung aus dem Jahr 2021, die es erlaubte, unter bestimmten Voraussetzungen erneut Anklage gegen einen Freigesprochenen zu erheben. Die Erweiterung des § 362 Abs. 1 StPO um Ziffer 5 sei verfassungswidrig. Nach der Regelung sollte die Wiederaufnahme eines Falles zuungunsten eines Angeklagten auch dann möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweise dringende Gründe dafür bilden, dass freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes und anderer schwerster Verbrechen verurteilt werden.
Außerdem bestätigte der BGH im September die Verurteilung des Cum-Ex-Initiators Hanno Berger durch das LG Bonn. Damit muss Berger wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen für acht Jahre ins Gefängnis. Ein Verfolgungsverbot des von der Schweiz ausgelieferten Angeklagten stehe nicht entgegen, befand der BGH.
Kurz vor Weihnachten gab es noch eine interessante strafrechtliche Entscheidung zum Allgemeinen Teil: Im Fall eines Mannes, der seinen minderjährigen Neffen beauftragt hatte, dessen Mutter zu töten, klärte der BGH eine bislang umstrittene Frage: Auch die Anstiftung von Strafunmündigen ist möglich.
Steuern: Ein bisschen Soli und Krypto-Gewinne
Auch der BFH schaffte es in 2023 gleich mehrfach in die Schlagzeilen. Anfang des Jahres wiesen die obersten Finanzrichterinnen und -richter die Klage eines Ehepaars gegen den Solidaritätszuschlag ab. Dieser sei nicht verfassungswidrig. Die Bundesregierung kann damit weiter jährliche Einnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe aus der Abgabe einplanen. Die Kläger hatten mit Unterstützung des Steuerzahlerbundes eine Vorlage an das BVerfG erreichen wollen.
Im Februar kam eine Entscheidung aus München, die nicht nur in der Kryptoszene mit Spannung erwartet worden war: Veräußerungsgewinne, die ein Steuerpflichtiger innerhalb eines Jahres aus dem Verkauf oder dem Tausch von Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum und Monero erzielt, der Besteuerung als privates Veräußerungsgeschäft unterfallen.
Von Interesse für Mieter war eine Entscheidung des BFH aus Februar, wonach Mieter Aufwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen und Handwerkerleistungen auch dann steuermindernd geltend machen können, wenn sie die Verträge mit den Leistungserbringern nicht selbst abgeschlossen haben. Voraussetzung sei lediglich, dass die Leistungen dem Mieter zugutekämen und die gesetzlich geforderten Nachweise vorgelegt werden.
Wirtschaft: Aufklärungspflichten bei Due Diligences, Folgen des Lkw-Kartells
Eine Grundsatzentscheidung zu Aufklärungspflichten bei Due Diligences gab es vom BGH im September. Die Karlsruher Richterinnen und Richter verschärften die Aufklärungspflichten von Immobilienverkäufern im Hinblick auf anstehende Sanierungskosten. Unterlagen dazu drei Tage vor dem geplanten Vertragsabschluss ohne entsprechenden Hinweis in einen virtuellen Datenraum zu stellen, reicht aus Sicht des BGH nicht aus.
Im Juli entschied der BGH, dass der wegen eines wichtigen Grundes erfolgte Ausschluss eines Gesellschafters bereits mit Rechtskraft des Urteils wirksam wird. Der II. Zivilsenat gab damit seine 70 Jahre alte Rechtsprechung auf, wonach erst die Abfindung gezahlt werden musste.
Im Dezember hat schließlich der Kartell-Senat klargestellt, dass das Lkw-Kartell auch Leasingnehmer und Mietkäufer geschädigt hat. Die Daimler AG, die an dem Lkw-Kartell beteiligt war, muss nun einem Bauunternehmer für von diesem geleaste Lkw Schadensersatz zahlen. Der BGH argumentierte, dass mit den Kaufpreisen wegen des Kartells auch die Raten für Leasingnehmer oder Mietkäufer gestiegen sind.
Ebenfalls im Dezember hat der EuGH die Voraussetzungen präzisiert, unter denen nationale Aufsichtsbehörden eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die DS-GVO verhängen können. In dem Fall aus Deutschland wehrte sich das Immobilienunternehmen Deutsche Wohnen gegen eine Geldbuße, die ihm auferlegt worden war, weil es personenbezogene Daten von Mietern länger als erforderlich gespeichert hatte. Der EuGH stellte klar, dass nur schuldhafte Verstöße geahndet werden können, geht aber von einem weiten Verständnis zurechenbaren Handelns aus.
Wahlen und Parteien vor dem BVerfG
Weitere BVerfG-Entscheidungen von Bedeutung betreffen insbesondere die Chaos-Wahlen in Berlin 2021 und die Wahlrechtsreform 2020. So entschied das Gericht im Januar im Eilverfahren, dass die Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus wie geplant am 12. Februar 2023 stattfinden konnte. Einer kurzfristigen Verschiebung der Abstimmung erteilte das Gericht eine Absage. Die Begründung reichte das Gericht im Mai nach: Demnach sei der Eilantrag mangels Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache unbegründet gewesen. Für eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG gegen landesverfassungsgerichtliche Wahlprüfungsentscheidungen sei regelmäßig kein Raum. Landesverfassungsgerichtliche Wahlprüfungsentscheidungen seien grundsätzlich unantastbar. Sehr wohl hat das BVerfG sich aber mit der Bundestagswahl beschäftigt, die in der Hauptstadt am selben Tag stattgefunden hatte: In 455 Wahlbezirken müsse die Wahl wiederholt werden, entschieden die Karlsruher Richterinnen und Richter kurz vor Weihnachten, die teilweisen Neuwahlen sollen nun am 11. Februar 2024 stattfinden.
Die von der damaligen großen Koalition im Jahr 2020 durchgesetzte Wahlrechtsreform erklärte das BVerfG im November hingegen für verfassungskonform. Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien werde nicht verletzt und die Regelungen seien auch nicht zu kompliziert oder undurchsichtig für die Wähler. Mittlerweile ist aber schon eine hochumstrittene Nachfolger-Reform des Wahlgesetzes zur Verkleinerung des Bundestages der aktuellen Ampel-Regierung in Kraft. Sie geht noch deutlich weiter als die Reform 2020 und wird von der jetzigen Opposition heftig kritisiert. Mehrere Klagen dagegen sind schon vor dem BVerfG anhängig – eine des Freistaats Bayern und der CSU und eine weitere des Vereins "Mehr Demokratie".
Weiter kippte das BVerfG im Januar die Änderung der staatlichen Parteienfinanzierung. 2018 hatte die damalige Große Koalition eine Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung um jährlich 25 Millionen Euro durchgesetzt. Vor allem habe der Gesetzgeber die Höhe der Anhebung seinerzeit nicht ausreichend begründet, so die Begründung.