Wer nach dem Examen Einsicht in seine Klausuren genommen hat, der mag womöglich bei der Durchsicht der Voten schon einmal gedacht haben "Das ist doch Willkür!". Das BVerwG hat nun in einem Beschluss, so scheint es, eben dieses Vorurteil gewissermaßen höchstrichterlich bestätigt – und goutiert. Ein Beschluss des 6. Senats im Streit um eine nicht bestandene Examensprüfung legt dies jedenfalls nahe (BVerwG, Beschluss vom 14.12.2023, Az. 6 B 12.23).
Ob nun die Bewertung völlig abseits der Selbsteinschätzung liegt oder man bei der Einsicht eine unerklärliche Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitkorrektur in der Benotung feststellen muss, die mangelnde Vergleichbarkeit und Transparenz der Notenvergabe in den juristischen Examina kann mitunter frustrierend sein. In diesem Fall hatte sie für einen Prüfling jedoch ein gutes Ende, denn das BVerwG erhielt die Entscheidung der Instanzgerichte aufrecht, die ihm Recht gegeben hatten. Er hat sein Examen bestanden.
Der Kandidat im 2. Staatsexamen aus NRW hatte die dort maßgebliche Marke von mindestens 3,5 Punkten im Schnitt aus den Klausuren verfehlt. Statt der Ladung zur mündlichen Prüfung erhielt er deshalb einen Bescheid über das Nichtbestehen. Er legte Widerspruch gegen die Bewertung von fünf seiner acht Klausuren ein, woraufhin das Landesjustizprüfungsamt (LJPA) Stellungnahmen der jeweiligen Prüfer einholte. Zum entscheidenden Streitpunkt, an dem Bestehen oder Nichtbestehen hing, wurde schließlich die Entscheidung über die Bewertung der Klausur Strafrecht 1, die ursprünglich mit 6 Punkten (ausreichend) benotet worden war.
Prüfer ändern ihre Bewertung – und dann wieder zurück
Doch das änderte sich nun: "Nach nochmaliger Überprüfung unter Berücksichtigung der Begründung des Widerspruches ist davon auszugehen, dass die Bearbeitung bereits eine Leistung darstellt, die in jeder Hinsicht durchschnittlichen Anforderungen entspricht, so dass sie mit der Note ′befriedigend (7 Punkte)′ zu bewerten ist" schrieb der Erstkorrektor in seiner Stellungnahme, der Zweitkorrektor schloss sich dem an.
Das LJPA erließ daraufhin jedoch keine neue Prüfungsentscheidung, sondern ließ die Prüfer in einem Schreiben wissen, dass man die angeregte Anhebung der Note "aus prüfungsamtlicher Sicht nicht ohne weiteres eingängig begründet" sehe. Im Überdenkungsverfahren dürften sie sich nur mit "substantiierten Einwänden des Prüflings" auseinandersetzen. Ohne solche dürfe keine "von der ursprünglichen Bewertung abweichende Gewichtung der Vorzüge und Mängel der Bearbeitung" vorgenommen werden, da anderenfalls der Prüfungsmaßstab offensichtlich verschoben werde. Man bat die Prüfer daher, ihre eigene Neubewertung noch einmal zu überprüfen und darzulegen, inwiefern sie auf berechtigte Einwände des Prüflings zurückgehe.
Die Prüfer antworteten darauf, der Prüfling habe keine durchgreifenden Einwände gegen die ursprüngliche Bewertung geltend machen können, weshalb man nun doch an den 6 Punkten festhalte. Das LJPA wies daraufhin den Widerspruch gegen den Nichtbestehensbescheid zurück, wogegen der Prüfling Klage erhob.
Er argumentierte, die Bewertung sei eine eigenverantwortliche Entscheidung der Prüfer, weshalb sich das Prüfungsamt jeder Einflussnahme zu enthalten habe. Dass sie die Note heraufgesetzt hatten, sei nicht zwangsläufig auf einen verschobenen Bewertungsmaßstab zurückzuführen. Sowohl VG als auch OVG gaben der Klage statt, die schlussendlich erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wies jetzt das BVerwG zurück. "In einem in zulässiger Weise angestoßenen Überdenkensverfahren sind die Prüfer nicht auf die Berücksichtigung jeweils für sich genommen durchgreifender Einwände beschränkt." Dieser 2. Leitsatz des Beschlusses ist es, der viele zum Nachdenken über die Qualität von Examensvoten anregen dürfte.
BVerwG: Bei gleichen Kriterien anders gewichtet
Neben verwaltungsprozessualen Feinheiten wie der Frage, ob gegen eine Prüfungsentscheidung eigentlich eine Anfechtungs- oder eine Verpflichtungsklage statthaft ist (Antwort: Es kommt drauf an!), nahm der Senat in seinen Beschlussgründen auch Stellung zur Frage der zulässigen Gesichtspunkte der Neubewertung einer Prüfungsleistung. Im Kern ging es dabei darum, ob es denkbar ist, dass bei unveränderten Bewertungskriterien und - vor dem Hintergrund dieser Kriterien - im Wesentlichen unveränderter Kritik an der Bearbeitung am Ende dennoch eine andere Note unter einer Klausur stehen kann. Mit anderen Worten: Kann ein und dieselbe inhaltliche Kritik zu unterschiedlichen Noten führen, ohne dass der Maßstab der Prüfung sich geändert hat?
Die Argumentation des Prüfungsamts, dass eine andere Benotung einer Prüfungsleistung ohne echte Zweifel an der ursprünglichen Bewertung nur darauf zurückzuführen sein könne, dass Bewertungskriterien unzulässig verschoben worden wären, teilt das BVerwG nicht. Schließlich sei es sehr wohl möglich, einzelne Aspekte der Prüfungsleistung im Rahmen der Gesamtbewertung anders zu gewichten, auch wenn die Einwände des Prüflings jeweils für sich genommen nicht durchgriffen. Auch wenn sich Prüfer im Widerspruchsverfahren also nicht von den Bewertungskriterien lösen dürften, sei der Grundsatz der Chancengleichheit nicht beeinträchtigt, wenn sie bei nochmaligem Überdenken die Prüfungsleistung anhand der gleich gebliebenen Kriterien anders bewerteten.
Die Entscheidung legt offen, was in der juristischen Prüfungswelt ohnehin allgemein bekannt ist: Ob eine Klausur mit 6 oder 7 Punkten zu bewerten ist, divergiert je nach Prüferin oder Prüfer, mitunter womöglich auch je nach deren Tagesform. Absolut trennscharfe Bewertungskriterien, mit denen zwischen allen 18 Notenpunkten eindeutig differenziert werden könnte, existieren nun einmal nicht. Diese Erkenntnis dürfte bei jenen, die die Prüfung noch vor sich haben, nicht unbedingt für Entspannung sorgen. Aber vielleicht trägt sie doch ein wenig dazu bei, sich von Einzelnoten nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Ob man ein guter Jurist ist, entscheidet sich nicht an der Klausur Strafrecht 1 – zum Glück.