Interview

Unparteiisch trotz Parteibuch?

Die Entscheidung des VG Berlin zu den Zurückweisungen von drei Somaliern an der deutsch-polnischen Grenze unter Beteiligung eines Richters, der den Grünen nahestehen und sich zuvor zu Migrationsthemen positioniert haben soll, hat eine Diskussion darüber entfacht, wann das Vertrauen in die richterliche Unabhängigkeit gefährdet erscheint. Wir haben dazu den Vizepräsidenten des VG Wiesbaden a. D. Dr. Bernd Wittkowski befragt, der auch während seines Richterdiensts kommunalpolitisch aktiv war.

18. Jul 2025

NJW: Wie politisch dürfen Verwaltungsrichter sein?

Wittkowski: Dass Verwaltungsrichter (partei-) politisch tätig sein dürfen, ergibt sich verfassungsrechtlich aus Art. 5 I sowie 21 GG – diese Grundrechtsnormen gelten auch für die Richterschaft – und spezialgesetzlich aus § 39 DRiG, in dem die politische Betätigung von Richtern ausdrücklich erwähnt wird. Allerdings muss die politische Tätigkeit mit ihrer richterlichen Unabhängigkeit, Neutralität und dem Ansehen der Justiz vereinbar sein. Es gibt also spezielle Grenzen bei der politischen Betätigung von Richtern im Allgemeinen und bei Verwaltungsrichtern, die auch über politisch geprägte Entscheidungen der öffentlichen Hand zu entscheiden haben, im Besonderen.

NJW: Eine Parteimitgliedschaft ist also zulässig?

Wittkowski: Die bloße Mitgliedschaft von Richtern in einer Partei halte ich für unproblematisch, solange das Vertrauen in die richterliche Unabhängigkeit nicht erschüttert wird (§ 39 DRiG), insbesondere die richter­liche Tätigkeit nicht von parteipolitischen Erwägungen beeinflusst wird. Die besondere Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung für Richter ist also bei einer Parteimitgliedschaft ebenso zu beachten wie die Einhaltung der Neutralität im Dienst.

NJW: Wie bewerten Sie die Mitgliedschaft in der AfD, nachdem die Partei vom Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde?

Wittkowski: Wie eingangs gesagt, darf ein Richter grundsätzlich Mitglied einer politischen Partei sein – auch der AfD. Eine solche Mitgliedschaft ist zulässig, solange die Partei nicht verboten ist. Wenn sich ein Richter mit AfD-Mitgliedschaft öffentlich mit rechts­extremen oder verfassungsfeindlichen Positionen äußert oder sie unterstützt, kann das aber disziplinarrechtliche oder andere dienstrechtliche Konsequenzen haben. Das zeigt das Beispiel des ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten und Richters Jens Maier, der wegen Unvereinbarkeit seines öffentlichen politischen Auftretens mit seinem Richteramt in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Entscheidend ist jedoch immer das konkrete Verhalten, nicht allein die Parteizugehörigkeit, auch wenn die Partei als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde.

NJW: Wie sieht es aus, wenn das politische Engagement über die Parteimitgliedschaft hinausgeht? Darf beispielsweise ein Verwaltungsrichter in seinem Gerichtsbezirk Mitglied des Stadtparlaments sein?

Wittkowski: Meiner Meinung nach grundsätzlich ja. Würde man diese Frage verneinen, würde dies eine Einschränkung des grundrechtlich auch für Richter abgesicherten Rechts auf politische Betätigung darstellen. Solange er nicht über Fälle entscheidet, die un­mittelbar mit seiner politischen Tätigkeit kollidieren, ist eine Trennung der Funktionen möglich. Eine Interessenkollision kann über die Befangenheitsvorschriften, ins­besondere das Instrument der Selbstablehnung (§ 54 I VwGO iVm § 48 ZPO) vermieden werden, was ein milderes Mittel als ein Verbot kommunalpolitischer Tätigkeit für (Verwaltungs-)Richter darstellt. Zu fordern ist aber von kommunalpolitisch tätigen Richtern, dass sie die erforderliche Sensibilität dafür entwickeln, wann sie an einem Gerichtsverfahren wegen der Gefahr ­eines Interessenkonflikts nicht mitwirken dürfen. Die Frage, ob Verwaltungsrichter in ihrem Gerichtsbezirk Mitglied eines Stadtparlaments sein dürfen, ist in der Literatur umstritten; bis heute gibt es auch keine Gerichtsentscheidung hierzu. Angesichts der zahlreichen Auslegungsversuche von Normen zur Klärung dieser Frage wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber die Streitfrage mit einer klaren gesetzlichen Regelung im DRiG lösen würde. Was ich nicht teilen und auch nicht bestätigen kann, ist die Ansicht, dass bei Verwaltungsrichtern, die einer Kommunalver­tretung angehören, generell ein allgemein exekutivfreundliches Verhalten und damit eine dauerhafte latente Gefahr für eine neutrale Entscheidungsfindung zu befürchten ist.

NJW: Wie sieht es aus mit öffentlichen politischen Äußerungen, etwa in sozialen Medien? Sollten Verwaltungsrichter da besonders zurückhaltend sein?

Wittkowski: Ja, das sollten sie. Politische Meinungs­äußerungen von Verwaltungsrichtern in den sozialen Medien können Zweifel an der Unvoreingenommenheit eines Richters aufkommen lassen, vor allem dann, wenn es sich um umstrittene Themen handelt, die auf breiter Ebene diskutiert werden. Verwaltungsrichter entscheiden über staatliches Handeln und oft auch über politisch sensible Themen wie etwa Asylrecht, Naturschutzrecht, Versammlungsrecht; da wäre die Gefahr des Eindrucks mangelnder Neutralität und Unvoreingenommenheit des Richters groß, auch wenn er im Einzelfall gar nicht befangen wäre. Die richterliche Autorität lebt vom Vertrauen der Bevölkerung in die Neutralität der Justiz, daher ist in den sozialen Medien Zurückhaltung geboten.

NJW: Sollte es in den Gerichten Vorgaben, Leitlinien oder Ähnliches geben, die regeln, in welchem Umfang Richterinnen und Richter auf Social Media aktiv sein dürfen?

Wittkowski: Das halte ich für sinnvoll, da es eine Orientierung geben würde, was bei Aktivitäten in den sozialen Medien noch zulässig ist und was nicht. Solche Leitlinien, die die richterliche Unabhängigkeit beachten müssten, würden zudem dem präventiven Schutz der Richter dienen und könnten sie vor dienstrechtlich relevanten Grenzüberschreitungen bewahren.

NJW: Hätte sich der Vorsitzende Richter des VG ­Berlin in der Sache für befangen erklären sollen?

Wittkowski: Meines Erachtens ja. Presseberichten nach hat er sich seit Jahren in der Öffentlichkeit für eine äußerst migrantenfreundliche Aufnahmepolitik ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund sind Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit in einem Verfahren, in dem es um die Zurückweisung von Migranten geht, nachvollziehbar. Eine Selbstablehnung hätte daher meiner Ansicht nach nahegelegen.

NJW: Besagter Richter sah sich nach der umstrittenen Eilentscheidung massiven Anfeindungen im Netz ausgesetzt. Haben solche Angriffe nach Ihrer Wahrnehmung zugenommen?

Wittkowski: Auf jeden Fall. Der Deutsche Richterbund hat im letzten Jahr berichtet, dass sich einer Umfrage zufolge Gerichte und Richter nach Urteilen zunehmend mit verbalen Angriffen in den sozialen Medien konfrontiert sehen.

NJW: Wie sollte die Gerichtsleitung darauf reagieren?

Wittkowski: Die Gerichtsleitung hat eine Fürsorgepflicht für ihre Richter. Daher sollte sie bei derartigen Angriffen in den sozialen Medien klar Stellung beziehen und gegebenenfalls rechtliche oder psychologische Hilfe anbieten. Gleichzeitig braucht es eine stärkere ­Öffentlichkeitsarbeit der Justiz, um Desinformationen entgegenzuwirken.

NJW: Wird mit dem Thema Neutralität und Befangenheit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausreichend sensibel umgegangen?

Wittkowski: In den Verwaltungsgerichten wird verantwortungsvoll mit diesen Aspekten umgegangen. Die Richterschaft prüft – so meine Erfahrung – ihre Unparteilichkeit in der Regel von sich aus sehr genau und zeigt im Zweifel Bedenken an. Dennoch ist es wichtig, angesichts der Herausforderungen durch Social Media oder politisches Engagement das Thema dauerhaft im Blick zu behalten.

Dr. Bernd Wittkowski studierte Jura an den Univer­sitäten Heidelberg und Mainz. Seit 1980 war er in der Verwaltungsgerichtsbarkeit tätig, von September 1985 bis Januar 2016 in Hessen. Ende 1993 wurde er zum Vorsitzenden Richter am VG Frankfurt a. M. ­ernannt; von 2007 bis zu seiner Pensionierung 2016 war er Vizepräsident des VG Wiesbaden. Daneben ­engagiert er sich seit vielen Jahren kommunalpolitisch in der CDU und war von Januar 2019 bis März 2021 deren Fraktionsführer im Wiesbadener Rathaus. 

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Interview: Tobias Freudenberg / Monika Spiekermann.