NJW-Editorial
Die missbrauchte Verwirkung
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Dem BGH zufolge tritt die Verwirkung eines Anspruchs eigentlich nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ein, die als Zeit- und als Umstandsmoment vorliegen müssen. Dennoch wird dieses Rechtsinstitut von Gerichten in unerhörter Weise ausgeweitet und missbraucht. Denn sie stellen in vielen Fällen fest, dass die Belehrungen in Lebensversicherungs- oder Kreditverträgen fehlerhaft sind – weisen Verbraucherklagen aber trotzdem wegen angeblicher Verwirkung ab.

8. Jul 2021

Wir erinnern uns gerne an Sprüche, mit denen unsere Professorinnen und Professoren rechtliche Institute in unseren Köpfen verankern wollten. Einer von ihnen erklärte, um uns die geringe Bedeutung von § 242 BGB klarzumachen, dass es mit der Treue ja nicht mehr so gut stehe und auch der Glaube zunehmend abnehme. Wer die aktuelle Rechtsprechung zum Verbraucherschutz verfolgt, kommt allerdings zu anderen Erkenntnissen: Obwohl nach dem BGH (zuletzt Beschl. v. 13.1. 2021 – IV ZR 67/20, BeckRS 2021, 222) die Verwirkung eines Anspruchs nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen eintritt und besonders gravierende Umstände als Zeit- und als Umstandsmoment vorliegen müssen (immerhin wird einer Person ein ihr zustehendes Recht genommen), wird das Institut der Verwirkung in unerhörter Weise ausgeweitet und missbraucht. In vielen Fällen stellen Gerichte fest, dass zwar die Belehrungen in Lebensversicherungs- oder Kreditverträgen fehlerhaft seien, die Verbraucherklagen aber trotzdem wegen angeblicher Verwirkung abzuweisen seien.

Kann eine reine Vertragserfüllung einen gravierenden Umstand darstellen, wie es einige Gerichte bejaht haben (etwa das LG Mainz, BeckRS 2021, 14986)? Wohl kaum. Es fehlt schon das Umstandsmoment. Außerdem spricht die Vorabauszahlung aus der Lebensversicherung eher für einen Lösungswillen als dafür, dass der Kunde der Versicherung sein Vertrauen aussprechen will (anders aber z.B. LG Stuttgart, BeckRS 2020, 48197). Ein Zeitablauf zwischen Beendigung und Rücktritt von acht Tagen ist niemals gravierend und ungeeignet, bei Lebensversicherungen ein schutzwürdiges Vertrauen entstehen zu lassen (anders aber LG Potsdam, BeckRS 2021, 14983). Dies sind nur drei Beispiele, wie die Rechtsprechung eine Generalklausel nutzt, um eine angebliche Gerechtigkeit herzustellen.

Wohlgemerkt: Das „ewige“ Widerrufsrecht gibt es nur deshalb, weil Versicherungen und Banken nicht die rechtlichen Anforderungen an die Belehrungen befolgten. Sie passten ihre Verträge nicht an und beendeten die „Ewigkeit“ auch nicht durch korrekte Belehrungen. Die oben genannten Entscheidungen stellen also diejenigen unter einen besonderen Schutz, die die höchstrichterliche Rechtsprechung willentlich missachten oder ignorieren. Hinzu kommt: Es ist bundesweit ein Flickenteppich entstanden. Gerichte, die gerade 50 km auseinanderliegen, fällen zum Thema Verwirkung unterschiedlichste Entscheidungen. Angesichts dessen wäre höchstrichterliche Klärung dringend notwendig. Revisionen werden aber systematisch nicht zugelassen. Ein Landgericht war der Meinung, dass eine Klarstellung durch den BGH unnötig sei, weil es sich bei der Verwirkung um ein „seltenes Rechtsinstitut“ handele. Da immerhin 250 Millionen Lebensversicherungen und Kreditverträge betroffen sind, wäre ein umsichtiger Umgang der Gerichte mit der schwammigen Generalklausel des § 242 BGB angezeigt.

Rechtsanwalt Lutz Hartmann ist Partner der hwlegal Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Frankfurt a. M..