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OLG Hamm: Maßregelvollzug muss sich auf Unterbringungsrecht einstellen

OLG Hamm, Beschl. v. 7.2.2017 – 4 Ws 272/16
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann den Staat dazu zwingen, einem seit über 30 Jahren im geschlossenen Maßregelvollzug Untergebrachten Lockerungen – vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim – zu gewähren und die Lockerungen bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten mit dem Ziel einer möglichst baldigen Erledigung der Unterbringung oder ihrer Aussetzung zur Bewährung.
Zum Sachverhalt

Das LG Bielefeld hatte den im Jahre 1952 geborenen Betroffenen im Jahre 1985 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Gleichzeitig ordnete es die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus an. In dem Urteil (dem schwerpunktmäßig Taten des sog. „Schenkelverkehrs“ ohne Anwendung von Gewalt zu Grunde lagen) gelangte das LG zu der Feststellung, dass der Betroffene infolge einer Intelligenzminderung nicht in der Lage sei, seinem Triebverlangen die erforderlichen rationalen Hemmungen entgegenzusetzen, und dass mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin mit sexuellen Übergriffen des Betroffenen auf Kinder zu rechnen sei.

Seit dem Jahr 1985 befindet sich der Betroffene im geschlossenen Maßregelvollzug. Die Fortdauer der Unterbringung wurde gerichtlich jährlich überprüft und angeordnet, zuletzt durch das LG Paderborn im Juli 2016. Der Betroffene stelle nach wie vor eine Gefahr für Kinder dar. Ohne feste Strukturen gehe von ihm ein unkalkulierbares Risiko neuer, einschlägiger pädophiler Taten aus. Es müsse zunächst abgewartet werden, inwieweit eine – bislang nicht vorhandene – Bereitschaft des Betroffenen, in ein Wohnheim zu ziehen, dazu führe, dass für ihn eine Rehabilitationsperspektive erarbeitet werden könne.

Entscheidung des OLG

Der 4. Strafsenat des OLG Hamm hat die vom Betroffenen gegen die Entscheidung des LG Paderborn eingelegte Beschwerde als unbegründet verworfen und damit die Entscheidung des LG bestätigt. Nach Auffassung des OLG ist derzeit die Fortdauer der Unterbringung des Betroffenen anzuordnen. In seiner Entscheidung geht das OLG ausführlich auf die Frage ein, ob die Unterbringung aufgrund der zum 1.8.2016 in Kraft getretenen Neuregelung der einschlägigen Vorschrift des § 67d VI StGB durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären ist.

Diese Frage sei zu verneinen. Nach der neuen Rechtslage sei eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die bereits mindestens zehn Jahre andauere, (zwingend) dann für erledigt zu erklären, wenn nicht die Gefahr bestehe, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Diese Gefahr sei hier positiv festzustellen: Neben der Intelligenzminderung bestehe bei dem Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie. Ohne die ihn unterstützenden und begrenzenden Strukturen einer Unterbringung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Betroffene erneut Kontakt zu Kindern aufnehme und es zu sexuellen Übergriffen komme, wie sie der Betroffene vor der Unterbringung begangen habe. Die Taten des sog. „Schenkelverkehrs“ seien als Taten zu bewerten, durch welche die Opfer jedenfalls seelisch schwer geschädigt werden.

Allerdings nähere sich die Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit nach der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsregelung in § 67d VI 1 StGB. Die zum 1.8.2016 in Kraft getretene Neuregelung habe die Rechtslage insoweit nicht grundlegend geändert. So sei die allgemeine Verhältnismäßigkeitsregelung durch die Schaffung der Regelunverhältnismäßigkeit nach sechs Jahren (gemäß § 67d VI 2 StGB) bzw. den strengeren Fortdauervoraussetzungen ab zehn Jahren Maßregelvollstreckung (gemäß § 67d VI 3, III 1 StGB) nicht obsolet geworden. Vielmehr zeige die gesetzliche Systematik, dass die weiteren Verhältnismäßigkeitsregelungen nur konkretisierte Unterfälle einer Erledigung der Unterbringung wegen allgemeiner Unverhältnismäßigkeit darstellten. Damit gelte der schon vor der gesetzlichen Novellierung bestehende Grundsatz fort, dass die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs umso strenger seien, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauere. Das Freiheitsgrundrecht gewinne – wegen des sich durch eine fortdauernde Unterbringungsdauer verschärfenden Eingriffs – immer stärkeres Gewicht.

Gemessen an diesen Grundsätzen nähere sich die nunmehr rund 32-jährige Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit. Zwar gehe von ihm die Gefahr nicht unerheblicher Sexualdelikte eines mittleren Schweregrades zulasten besonders verletzlicher Opfer aus. Allerdings sei er nunmehr bereits mehr als doppelt so lange freiheitsentziehend untergebracht als ein voll schuldfähiger Täter für die begangenen Taten im Höchstfalle habe bestraft werden können. Der Betroffene habe rund die Hälfte seines bisherigen, bereits fortgeschrittenen Lebens in Freiheitsentzug verbracht.

Auf eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug sei der Betroffene derzeit allerdings nicht vorbereitet. Der Umstand, dass der Betroffene im Falle einer unvorbereiteten Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Anlasstaten vergleichbare Sexualdelikte begehen könnte, hindere das OLG daran, die weitere Unterbringung wegen Unverhältnismäßigkeit bereits jetzt für erledigt zu erklären.

Die sich abzeichnende Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung veranlasste das OLG allerdings zu folgenden Hinweisen: Dem Betroffenen seien nunmehr unverzüglich Lockerungen (vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim) zu gewähren, die bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten seien. Dem Staat obliege es, die Gefahr weiterer Straftaten durch einen Untergebrachten mithilfe eines Überleitungsprozesses zu verringern. Auch beim Betroffenen hielten es die behandelnde Klinik sowie der Sachverständige grundsätzlich für vertretbar, ihn in ein geschlossenes Heim zu beurlauben, weil dort sein Rückfallrisiko durch flankierende Maßnahmen ausreichend reduziert werden könne. Insoweit sei nicht von entscheidender Bedeutung, dass der Betroffene dieser Unterbringung bislang nicht uneingeschränkt zugestimmt habe. Er sei aufgrund seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage, die Situation in einem geschlossenen Heim ausreichend einzuschätzen. Ihm müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, durch ein kurzfristiges Probewohnen seine bisherigen negativen Vorstellungen und Befürchtungen durch konkrete Erfahrungen in dem potentiellen neuen Lebensumfeld zu korrigieren.

OLG Hamm, Beschl. v. 7.2.2017 – 4 Ws 272/16


Pressemitteilung des OLG Hamm v. 10.4.2017

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