OLG Karlsruhe: Berufsunfähigkeitsversicherung – Keine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung bei erkennbar unvollständigen Gesundheitsfragen

BGB § 123 I; VVG §§ 6, 19, 22

Verzichtet der Versicherer im Rahmen der Antragstellung für eine Berufsunfähigkeitsversicherung erkennbar auf das Stellen bestimmter Gesundheitsfragen, besteht nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe keine Obliegenheit des Versicherungsnehmers, hierzu ungefragt Angaben zu machen. Dies gelte auch dann, wenn die nicht erfragten Umstände erkennbar gefahrerheblich sind. Nach Auffassung des Senats bestehe keine Obliegenheit, auf eine Erkrankung an multipler Sklerose hinzuweisen, wenn sich die nur einen Satz umfassende Gesundheitsfrage auf Angaben zu einem Tumorleiden (Krebs), einer HIV-Infektion (positiver Aids-Test), einer psychischen Erkrankung oder einem Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) beschränkt. Unterzeichnet der an multipler Sklerose erkrankte Kläger jedoch die objektiv falsche Erklärung „Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen“, ist der Versicherer dennoch zur Anfechtung berechtigt.

OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.04.2018 - 12 U 156/16 (LG Heidelberg), BeckRS 2018, 7166

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 10/2018 vom 17.05.2018

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Sachverhalt

Der Kläger macht Ansprüche aus einer im Jahr 2010 bei der Beklagten abgeschlossenen Berufsunfähigkeitsversicherung geltend. Der Versicherungsantrag enthielt keine Gesundheitsfragen, sondern stattdessen folgende vom Kläger angekreuzte Erklärung:

"Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen. (Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A122.)“

Das Formular A122 sah zahlreiche Gesundheitsfragen vor, die unter Punkt 4 Buchst. J auch Krankheiten "des Gehirns, Rückenmarks oder der weiteren Nerven" betrafen. Ein solches Formular füllte der Kläger nicht aus.

Der Kläger war bereits bei Antragstellung an multipler Sklerose erkrankt, was er auch wusste. Die Krankheit wurde bereits seit Juli 2002 behandelt. Das Landratsamt hatte 2005 einen Grad der Behinderung von 40% anerkannt, der 2006 auf 50% und 2009 auf 60% erhöht worden war.

Am 31.08.2012 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Leistungsantrag, in dem er angab, aufgrund seiner Erkrankung seit dem 07.05.2012 seine Vollzeittätigkeit als Orthopädietechniker nicht mehr ausüben zu können.

Unter dem 07.03.2013 lehnte die Beklagte ihre Leistung ab und erklärte die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, den Rücktritt sowie hilfsweise Vertragskündigung.

Das LG Heidelberg wies die Klage mit der Begründung ab, dass die Beklagte den Versicherungsvertrag wirksam gemäß § 22 VVG in Verbindung mit § 123 BGB angefochten habe.

Rechtliche Wertung

Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des OLG Karlsruhe ist das LG im Ergebnis zu Recht von einer wirksamen Anfechtung ausgegangen.

Anders als das LG sieht das OLG jedoch den Anfechtungsgrund nicht darin, dass es der Kläger unterlassen hat, die Beklagte auf die multiple Sklerose hinzuweisen.

Die umstrittene Frage, ob für den Versicherungsnehmer die Pflicht besteht, auch ohne Frage des Versicherers auf gefahrerhebliche Umstände hinzuweisen, könne hier dahinstehen, da nach allen Auffassungen keine spontane Anzeigepflicht bestanden habe. Die Beklagte hatte im Antragsformular eine Erklärung nur zu vier verschiedenen Krankheiten vorgesehen. Nur wenn der Kunde eine höhere Versicherungsleistung vereinbaren wollte oder sich gehindert sah, die Erklärung abzugeben, sollte er die ausführlichen Fragen des Formulars A122 beantworten. Dies sei so zu verstehen, dass die Beklagte eine entsprechende Erkrankung in allen anderen Fällen nicht interessierte.

Nach Ansicht des OLG seien die Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB jedoch erfüllt, weil der Kläger der Beklagten durch Unterzeichnung der angekreuzten Erklärung vorspiegelte, fähig zu sein, seiner Berufstätigkeit in vollem Umfang nachzugehen.

Der Senat stellte klar, dass nicht die Grundsätze des Arbeitsrechts, insbesondere nicht dessen Leistungsmaßstäbe entscheidend seien, sondern Antragsfragen nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen seien. Dieser gehe als rechtlicher Laie davon aus, dass es bei der Erklärung darauf ankommt, ob er die Aufgaben, die sein Beruf an ihn stellt, uneingeschränkt erfüllen kann, wobei es keine Rolle spielt, weshalb dies nicht der Fall ist. Für die Beurteilung der Richtigkeit der unterzeichneten Erklärung komme es danach darauf an, ob der Kläger bei Antragstellung in der Lage war, seinem konkret ausgeübten Beruf ohne Einschränkung nachzugehen und den damit einhergehenden Anforderungen im Rahmen des Zumutbaren gerecht zu werden.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei dies objektiv nicht der Fall gewesen. Der Kläger habe bei seiner Täuschung auch arglistig gehandelt.

Praxishinweis

Anders als in der vorliegenden Konstellation kann es in der Praxis durchaus auf das Ergebnis der in Rechtsprechung und Literatur umstrittenen Frage, ob den Versicherungsnehmer im Streitfall eine spontane Anzeigepflicht trifft, ankommen. Nach herrschender Auffassung ist bei fehlender Angabe nicht erfragter gefahrerheblicher Umstände eine Arglistanfechtung nicht ausgeschlossen, jedenfalls bei auf der Hand liegender oder evidenter Gefahrerheblichkeit (vgl. Langheid/Wandt/Müller-Frank, VVG, 2. Aufl. 2016, § 22 Rn. 6 m.w.N.; zum Streitstand s. ausführlich Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, 30. Aufl. 2018, § 22 Rn. 3 sowie Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 3. Aufl. 2014, Kap. O. Rn. 71).

Der – auch vorliegend entscheidende – 12. Zivilsenat des OLG Karlsruhe hat sich in der Vergangenheit dahingehend positioniert, dass das Verschweigen von Umständen, deren Gefahrerheblichkeit auch aus Sicht des Versicherungsnehmers auf der Hand liegt, also das Verschweigen schwerer oder chronischer Erkrankungen, grundsätzlich die Annahme einer Täuschung rechtfertige (OLG Karlsruhe Urteil vom 03.12.2015 – 12 U 57/15, BeckRS 2015, 20706 = r+s 2017, 316). Habe der Versicherungsnehmer gewisse Umstände – auch Untersuchungen – stark verharmlost oder harmlosere Umstände als die Verschwiegenen angegeben, so folge daraus, dass er sich der Gefahrerheblichkeit tatsächlich bewusst war und das Verschweigen daher auf Arglist schließen lässt.

Liegt wie im hiesigen Fall eine bewusste Falschbeantwortung einer Frage vor, genügt dieser objektive Umstand nicht allein zur Annahme von Arglist; vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Versicherungsnehmer auf die Entschließung des Versicherers Einfluss nehmen will (Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, 30. Aufl. 2018, § 22 Rn. 7 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).

Redaktion beck-aktuell, 25. Mai 2018.