OLG Hamm: Staat muss bei lange andauerndem Maßregelvollzug aktiv dessen Beendigung ermöglichende Maßnahmen fördern

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Staat dazu zwingen, einem seit über 30 Jahren im geschlossenen Maßregelvollzug Untergebrachten Lockerungen in Form einer vorübergehenden beobachteten Beurlaubung zu gewähren und diese Lockerungen bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten. Der Staat müsse so auf eine möglichst baldige Erledigung der Unterbringung oder ihre Aussetzung zur Bewährung hinwirken, bevor sie aufgrund ihrer langen Dauer mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht mehr zu vereinbaren sei (Beschluss vom 07.02.2017, Az.: 4 Ws 272/16, rechtskräftig, BeckRS 2017, 105078).

Betroffener seit 1985 im Maßregelvollzug

Das Landgericht Bielefeld hatte den im Jahre 1952 geborenen Betroffenen im Jahre 1985 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Gleichzeitig hatte es die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. In dem Urteil, dem schwerpunktmäßig Taten des sogenannten "Schenkelverkehrs“ ohne Anwendung von Gewalt zu Grunde lagen, gelangte die Strafkammer zu der Feststellung, dass der Betroffene infolge einer Intelligenzminderung nicht in der Lage sei, seinem Triebverlangen die erforderlichen rationalen Hemmungen entgegenzusetzen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei weiterhin mit sexuellen Übergriffen des Betroffenen auf Kinder zu rechnen. Seit dem Jahr 1985 befindet sich der Betroffene im geschlossenen Maßregelvollzug.

OLG ordnet derzeit weitere Unterbringung an

Die Fortdauer der Unterbringung wurde gerichtlich jährlich überprüft und angeordnet, zuletzt durch die zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn im Juli 2016. Der Betroffene stelle, so die Strafvollstreckungskammer bei ihrer letzten Beschlussfassung, nach wie vor eine Gefahr für Kinder dar. "Ohne feste Strukturen geht von ihm ein unkalkulierbares Risiko neuer, einschlägiger pädophiler Taten aus. Es muss zunächst abgewartet werden, inwieweit eine - bislang nicht vorhandene - Bereitschaft des Betroffenen, in ein Wohnheim zu ziehen, dazu führt, dass für ihn eine Rehabilitationsperspektive erarbeitet werden könne." Die vom Betroffenen gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer eingelegte Beschwerde ist erfolglos geblieben. Nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten und eines externen Sachverständigen hat der Vierte Strafsenat des OLG Hamm die Beschwerde als unbegründet verworfen. Derzeit sei, so der Senat, die Fortdauer der Unterbringung des Betroffenen anzuordnen.

Unterbringung ist nicht aufgrund der Neuregelung des § 67d Abs. 6 StGB für erledigt zu erklären

In seiner Entscheidung geht der Senat ausführlich auf die Frage ein, ob die Unterbringung aufgrund der zum 01.08.2016 in Kraft getretenen Neuregelung der einschlägigen Vorschrift des § 67d Abs. 6 StGB durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären ist. Diese Frage hat der Senat hier verneint. Nach der neuen Rechtslage sei eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die bereits mindestens zehn Jahre andauere, (zwingend) dann für erledigt zu erklären, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Diese Gefahr hat das OLG hier aber positiv festgestellt.

Von Untergebrachtem geht weiter Gefahr aus

Neben der Intelligenzminderung bestehe bei dem Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie. Ohne die ihn unterstützenden und begrenzenden Strukturen einer Unterbringung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Betroffene erneut Kontakt zu Kindern aufnehme und es zu sexuellen Übergriffen komme, wie sie der Betroffene vor der Unterbringung begangen habe. Die Taten des sogenannten "Schenkelverkehrs“ seien als Taten zu bewerten, durch welche die Opfer jedenfalls seelisch schwer geschädigt werden.

Unterbringung kann aber aufgrund langer Dauer unverhältnismäßig werden

Allerdings nähere sich die rund 32-jährige Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit nach der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsregelung in § 67d Abs. 6 S. 1 StGB, so der Strafsenat weiter. Zwar habe die zum 01.08.2016 in Kraft getretene Neuregelung die Rechtslage insoweit nicht grundlegend geändert. So sei die allgemeine Verhältnismäßigkeitsregelung durch die Schaffung der Regelunverhältnismäßigkeit nach sechs Jahren (gem. § 67d Abs. 6 S. 2 StGB) bzw. den strengeren Fortdauervoraussetzungen ab zehn Jahren Maßregelvollstreckung (gem. § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 S. 1 StGB) nicht obsolet geworden. Vielmehr zeige die gesetzliche Systematik, dass die weiteren Verhältnismäßigkeitsregelungen nur konkretisierte Unterfälle einer Erledigung der Unterbringung wegen allgemeiner Unverhältnismäßigkeit darstellen.

Voraussetzungen für Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs

Damit gelte der schon vor der gesetzlichen Novellierung bestehende Grundsatz fort, dass die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs umso strenger seien, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauere. Das Freiheitsgrundrecht gewinne - wegen des sich durch eine fortdauernde Unterbringungsdauer verschärfenden Eingriffs - immer stärkeres Gewicht. Gemessen an diesen Grundsätzen nähere sich die Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit an. Zwar gehe von ihm die Gefahr nicht unerheblicher Sexualdelikte eines mittleren Schweregrades zulasten besonders verletzlicher Opfer aus. Allerdings sei er nunmehr bereits mehr als doppelt so lange freiheitsentziehend untergebracht als ein voll schuldfähiger Täter für die begangenen Taten im Höchstfalle hätte bestraft werden können.

Mangels Vorbereitung auf eine Entlassung kann weitere Unterbringung nicht für erledigt erklärt werden

Aber auf eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug sei der Betroffene derzeit nicht vorbereitet, so das OLG weiter. Der Umstand, dass er im Fall einer unvorbereiteten Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Anlasstaten vergleichbare Sexualdelikte begehen könnte, hindere den Senat daran, die weitere Unterbringung wegen Unverhältnismäßigkeit bereits jetzt für erledigt zu erklären.

Gericht verfügt Lockerungen zur Vorbereitung auf Entlassung aus Maßregelvollzug

Die sich abzeichnende Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung veranlasste den Senat allerdings zu folgenden Hinweisen: Dem Betroffenen seien nunmehr unverzüglich Lockerungen (vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim) zu gewähren, die bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten seien. Dem Staat obliege es, die Gefahr weiterer Straftaten durch einen Untergebrachten mithilfe eines Überleitungsprozesses zu verringern. Auch beim Betroffenen hielten es die behandelnde Klinik sowie der Sachverständige grundsätzlich für vertretbar, ihn in ein geschlossenes Heim zu beurlauben, weil dort sein Rückfallrisiko durch flankierende Maßnahmen ausreichend reduziert werden könne.

OLG regt Probewohnen an

Insoweit sei nicht von entscheidender Bedeutung, dass der Betroffene dieser Unterbringung bislang nicht uneingeschränkt zugestimmt habe. Er sei aufgrund seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage, die Situation in einem geschlossenen Heim ausreichend einzuschätzen. Ihm müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, durch ein kurzfristiges Probewohnen seine bisherigen negativen Vorstellungen und Befürchtungen durch konkrete Erfahrungen in dem potentiellen neuen Lebensumfeld zu korrigieren, heißt es im OLG-Beschluss abschließend.

OLG Hamm, Beschluss vom 07.02.2017 - 4 Ws 272/16

Redaktion beck-aktuell, 11. April 2017.