EuGH: Roche und Novartis könnten sich wettbewerbswidrig über Augenarzneien abgesprochen haben

Die Arzneimittelhersteller Roche und Novartis könnten sich wettbewerbswidrig abgesprochen haben, die Off-Label-Anwendung des Medikaments Avastin durch Aufbauschen möglicher Nebenwirkungen zu verringern, um den Absatz des (teureren) Arzneimittels Lucentis zu steigern. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 23.01.2018 entschieden. Die Absprache zwischen den Unternehmen könnte eine "bezweckte" Wettbewerbsbeschränkung darstellen (Az.: C-179/16).

Geldbußen gegen Roche und Novartis wegen wettbewerbswidriger Absprache verhängt

Avastin und Lucentis sind Arzneimittel, die von dem Unternehmen Genentech hergestellt werden, das zum Roche-Konzern gehört. Mit einer Lizenzvereinbarung überlies Genentech die gewerbliche Verwertung von Lucentis dem Arzneimittelhersteller Novartis. Avastin wird von Roche vertrieben. Für diese biotechnologischen Arzneimittel wurden von der Kommission und der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) Genehmigungen für das Inverkehrbringen erteilt. Lucentis ist für die Behandlung von Augenkrankheiten zugelassen. Auch Avastin wird, obgleich es nur für die Behandlung von Tumorerkrankungen zugelassen ist, häufig für die Behandlung von Augenkrankheiten eingesetzt, weil es preisgünstiger als Lucentis ist. 2014 verhängte die italienische Wettbewerbsbehörde (Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, AGCM), gegen Roche und gegen Novartis jeweils eine Geldbuße von etwas über 90 Millionen Euro. Sie begründete dies damit, dass die beiden Arzneimittelhersteller eine Absprache getroffen hätten, um zwischen Avastin und Lucentis eine künstliche Unterscheidung herbeizuführen. 

Wettbewerbsbehörde: Absprache sollte Lucentis-Absatz steigern

Nach Auffassung der Wettbewerbsbehörde sind nämlich Avastin und Lucentis für die Behandlung von Augenkrankheiten in jeder Hinsicht gleichwertig. Die Absprache habe auf die Verbreitung von Informationen abgezielt, die in der Öffentlichkeit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der augenheilkundlichen Anwendung von Avastin hätten erzeugen sollen, um so die Nachfrage zu Lucentis hin zu verlagern. Nach Schätzungen der AGCM sollen durch diese Nachfrage-Verlagerung dem italienischen öffentlichen Gesundheitswesen allein im Jahr 2012 Mehrkosten in Höhe von etwa 45 Millionen Euro entstanden sein. Nachdem ihre hiergegen erhobenen Klagen von dem Regionalen Verwaltungsgericht für Latium (Tribunale amministrativo regionale per il Lazio) abgewiesen worden waren, legten Roche und Novartis Rechtsmittel zum Staatsrat (Consiglio di Stato) ein. Der Staatsrat rief den EuGH zur Auslegung des EU-Wettbewerbsrechts im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH: Avastin als Off-Label-Anwendung und Lucentis gehören zum selben Markt

Laut EuGH durfte die AGCM davon ausgehen, dass Avastin als Off-Label-Anwendung zum selben Markt gehört wie das für Augenkrankheiten zugelassene Arzneimittel Lucentis. Er weist insoweit darauf hin, dass Arzneimittel, die bei denselben therapeutischen Indikationen eingesetzt werden könnten, zum selben Markt gehörten. Würden Arzneimittel allerdings unrechtmäßig hergestellt oder verkauft, könnten sie nicht als substituierbar oder austauschbar im Verhältnis zu rechtmäßig hergestellten und verkauften Produkten gelten. Jedoch verbiete das EU-Arzneimittelrecht weder die Verschreibung von Arzneimitteln bei therapeutischen Indikationen, die nicht von ihrer Zulassung erfasst seien, noch ihre Umpackung zu diesem Zweck, sofern bestimmte Bedingungen eingehalten seien.

Konkretes Substituierbarkeitsverhältnis hier gegeben

Ob diese Bedingungen eingehalten wurden, ist dem EuGH zufolge nicht von der AGCM zu prüfen, sondern von den für diese Prüfung zuständigen italienischen Gerichten oder Behörden. Im vorliegenden Fall bestehe für die Behandlung von Augenkrankheiten zwischen Lucentis und Avastin ein konkretes Substituierbarkeitsverhältnis. Wenn die hierfür zuständigen Behörden oder Gerichte eine etwaige Rechtswidrigkeit der Umpackung oder Verschreibung von Avastin bei Indikationen, die nicht von dessen Zulassung erfasst seien, nicht geprüft haben, dürfe die AGCM davon ausgehen, dass beide Erzeugnisse demselben Markt angehören, und sie deshalb als miteinander im Wettbewerb stehende Arzneimittel ansehen. Sei hingegen die etwaige Rechtswidrigkeit der Voraussetzungen, unter denen solche Umpackungen oder Verschreibungen stattfänden, durch die zuständigen Behörden oder Gerichte geprüft, sei die AGCM an das Ergebnis dieser Prüfung gebunden.

Absprache nicht als Nebenabrede zur Lizenzvereinbarung zu werten

Nach Ansicht des EuGH kann die von der AGCM geahndete Absprache zwischen Roche und Novartis auch nicht als Nebenabrede zu ihrer Lizenzvereinbarung gerechtfertigt werden. Denn diese Absprache habe nicht die geschäftliche Selbständigkeit der Parteien der Lizenzvereinbarung im Zusammenhang mit Lucentis beschränken sollen, sondern das Verhalten Dritter, insbesondere von Ärzten, um die Verschreibung von Avastin in der Augenheilkunde zugunsten von Lucentis zu verringern. Unter diesen Umständen könne die Absprache nicht als objektiv erforderlich und als Nebenabrede für die Durchführung der Lizenzvereinbarung angesehen werden.

Begriff der "bezweckten" Wettbewerbsbeschränkung

Eine "bezweckte" Wettbewerbsbeschränkung liegt laut EuGH vor, wenn zwei Unternehmen, die zwei konkurrierende Arzneimittel vertreiben, eine Absprache treffen, die darauf abziele, gegenüber der EMA, Angehörigen der Heilberufe und der Öffentlichkeit in einem Kontext, der durch einen ungesicherten wissenschaftlichen Kenntnisstand gekennzeichnet sei, irreführende Informationen über die Nebenwirkungen der Anwendung eines dieser Medikamente außerhalb seiner Zulassung zu verbreiten, um den Wettbewerbsdruck auf das andere Arzneimittel zu senken. Als irreführend seien diese Informationen – was zu überprüfen dem nationalen Gericht obliege – dann zu werten, wenn sie zum einen die EMA und die Kommission irreführen und zum anderen bewirken sollen, dass in einem Kontext der wissenschaftlichen Unsicherheit in der Öffentlichkeit eine Überschätzung der Risiken entsteht, die mit der Anwendung von Avastin bei Indikationen außerhalb seiner Zulassung verbunden sind.

Keine Freistellung bei Verbreitung irreführender Informationen

Schließlich weist der EuGH darauf hin, dass einer Absprache die in Art. 101 Abs. 3 AEUV vorgesehene Freistellung nur dann zugute kommen könne, wenn sie lediglich unerlässliche Beschränkungen vorsieht. Die Verbreitung irreführender Informationen über ein Arzneimittel könne aber nicht als "unerlässlich" angesehen werden. Eine Absprache, die auf die Verbreitung solcher irreführender Informationen abziele, könne deshalb nicht unter eine Freistellung fallen.

EuGH, Urteil vom 23.01.2018 - C-179/16

Redaktion beck-aktuell, 23. Januar 2018.