EuGH: Kopftuchverbot in privatem Unternehmen kann rechtmäßig sein

Das Verbot eines privaten Arbeitgebers, im Unternehmen ein islamisches Kopftuch zu tragen, kann zulässig sein, wenn es auf einer unternehmensinternen Regel basiert, die das Tragen politischer, philosophischer oder religiöser Zeichen unterschiedslos verbietet. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteilen vom 14.03.2017 in zwei Fällen aus Belgien und Frankreich entschieden, in denen zwei muslimischen Frauen wegen Tragens eines Kopftuchs gekündigt worden war. Der Wille des Arbeitgebers, einer Kundenbeschwerde nachzukommen, genügt allerdings nicht für ein Verbot (Az.: C-157/15 und C-188/15).

Belgischer Fall: Unternehmensinterne Regel verbietet Tragen religiöser Zeichen

In den beiden Ausgangsfällen aus Belgien (Az.: C-157/15) und Frankreich (Az.: C-188/15) klagen zwei Musliminnen gegen ihre Entlassung durch ihren privaten Arbeitgeber wegen Tragens eines islamischen Kopftuchs. Im belgischen Fall arbeitete die Klägerin Samira Achbita als Rezeptionistin für ein Sicherheitsunternehmen (G4S Secure Solutions), das unter anderem Rezeptions- und Empfangsdienste erbringt. 2006 kündigte sie ihrem Arbeitgeber an, dass sie beabsichtige, während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen. Dies verstieß gegen eine unternehmensinterne Regel, wonach "es den Arbeitnehmern verboten [ist], am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen." Mitte Juni 2006 wurde Achbita aufgrund ihrer festen Absicht, an ihrem Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen, entlassen. 

Vorlagegericht: Auf allgemeiner unternehmensinterner Regel basierendes Kopftuchverbot unmittelbar diskriminierend?

Das belgische Vorlagegericht (Hof van Cassatie, Kassationshof) rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und bat um Auslegung der europäischen Richtlinie 2000/78/EG über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Es wollte wissen, ob ein Kopftuchverbot, das auf einer allgemeinen internen Regel eines privaten Unternehmens beruht, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.

EuGH: Allgemeines Gebot neutraler Kleidung keine unmittelbare Diskriminierung

Laut EuGH stellt eine interne Regel wie die von G4S keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinn der Richtlinie 2000/78/EG dar. Die Regel beziehe sich auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen und gelte damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Nach dieser Regel würden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleich behandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert unter anderem vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden. Dass die interne Regel auf Achbita anders angewandt worden wäre als auf andere Arbeitnehmer von G4S, sei nicht erkennbar. 

Mittelbare Benachteiligung aber nicht ausgeschlossen

Der EuGH hält jedoch eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung nicht für ausgeschlossen, wenn die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligen sollte. Allerdings wäre eine solche Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt und hätte keine mittelbare Diskriminierung zur Folge, wenn mit ihr ein rechtmäßiges Ziel verfolgt würde und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären. Dies zu prüfen, sei Sache des nationalen Gerichts.

Politik der Neutralität im Verhältnis zu Kunden als Rechtfertigungsgrund

Der EuGH weist aber darauf hin, das ein rechtmäßiges Ziel gegeben sei, wenn der Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden eine Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität verfolgt. Der von der unternehmerischen Freiheit umfasste Wunsch eines Arbeitgebers, seinen Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, sei insbesondere dann rechtmäßig, wenn nur die Arbeitnehmer mit Kundenkontakt einbezogen werden. Das Verbot, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, sei zudem zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird.

Prüfungsvorgaben für das Vorlagegericht

Laut EuGH muss das vorlegende Gericht nun prüfen, ob G4S vor der Entlassung von Achbita eine entsprechende allgemeine und undifferenzierte Politik eingeführt hatte. Außerdem sei zu prüfen, ob sich das Verbot nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer von G4S richtet. Sei dies der Fall, sei das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen. Ferner sei zu prüfen, ob es G4S möglich gewesen wäre, Achbita einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen. 

Französischer Fall: Entlassung nach Kundenbeschwerde

Im französischen Fall arbeitete die Klägerin Asma Bougnaoui bei dem privaten Unternehmen Micropole als Softwaredesignerin. Nachdem sich ein Kunde darüber beschwert hatte, dass sie am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch trug, bekräftigte ihr Arbeitgeber den Grundsatz notwendiger Neutralität im Verhältnis zu ihren Kunden und bat sie, keinen Schleier mehr zu tragen. Dem kam Bougnaoui nicht nach und wurde daraufhin entlassen. 

Vorlagegericht: Wille zur Kundenwunscherfüllung als "wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung"?

Das französische Vorlagegericht (Cour de cassation, Kassationsgerichtshof) rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und wollte wissen, ob der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, als "wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung" im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG angesehen werden kann.

EuGH verneint Vorlagefrage – Begriff auf objektive Anforderungen beschränkt

Der EuGH verneinte die Vorlagefrage. Der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trage, sei nicht im Sinn von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG gerechtfertigt. Nach dieser Bestimmung könnten die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine von der Richtlinie verbotene Ungleichbehandlung keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Der EuGH betonte, dass unter anderem ein mit der Religion im Zusammenhang stehendes Merkmal nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen könne. Denn dieser Begriff verweise auf eine Anforderung, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben sei, und erstrecke sich nicht auf subjektive Erwägungen wie den Willen des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen.

EuGH, Urteil vom 14.03.2017 - C-157/15

Redaktion beck-aktuell, 14. März 2017.