EuGH: EU kann Marrakesch-Vertrag über Zugang zu veröffentlichten Werken für Sehbehinderte allein abschließen

Die Europäische Union kann den Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken allein, also ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten abschließen. Dies geht aus einem Gutachten des Europäischen Gerichtshofs vom 14.02.2017 hervor. Die EU verfüge dafür über die ausschließliche Zuständigkeit, da der Vertrag die Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG und damit die "gemeinsamen Regeln der Union" beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte (Gutachten 3/15).

Vertrag von Marrakesch enthält urheberrechtliche Schrankenregelungen

Der Vertrag von Marrakesch schreibt den Vertragsstaaten vor, in ihrem nationalen Recht vorzusehen, dass staatliche Einrichtungen und gemeinnützige Organisationen, die Dienstleistungen in Bezug auf Bildung, pädagogische Schulung, adaptives Lesen oder Zugang zu Informationen anbieten, zugunsten von blinden, sehbehinderten oder anderweitig lesebehinderten Personen (im Folgenden: begünstigte Personen) veröffentlichte Werke ohne die Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts in einem zugänglichen Format vervielfältigen oder verbreiten dürfen. Die Staaten müssen auch den grenzüberschreitenden Austausch von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format dadurch erleichtern, dass sie bestimmte Formen der Aus- und Einfuhr dieser Vervielfältigungsstücke gestatten.

Gutachtenfrage: Kann EU Vertrag von Marrakesch allein abschließen?

2012 ermächtigte der Rat die Kommission, im Namen der EU an den Verhandlungen teilzunehmen, die im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) über den künftigen Vertrag von Marrakesch geführt wurden. Der Vertrag wurde am 27.06.2013 angenommen. Die Kommission ging davon aus, dass die Union den Vertrag von Marrakesch allein abschließen könne, und legte dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss über den Abschluss des Vertrags vor, der vom Rat jedoch nicht angenommen wurde. Daher beantragte sie beim EuGH ein Gutachten zu der Frage, ob der Vertrag von Marrakesch von der Union allein abgeschlossen werden kann oder ob insoweit die Beteiligung der Mitgliedstaaten erforderlich ist.

EuGH: EU ausschließlich zuständig für Abschluss des Marrakesch-Vertrags

Der EuGH kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die EU den Vertrag von Marrakesch allein abschließen kann. Zwar falle der Vertrag nicht unter die gemeinsame Handelspolitik, für die die EU nach dem AEUV ausschließlich zuständig sei. Allerdings sei die EU auch ausschließlich zuständig, wenn der Abschluss einer internationalen Übereinkunft "gemeinsame Regeln" beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte. Dies sei beim Vertrag von Marrakesch der Fall.

Urheberrechtsrichtlinie enthält auch Ausnahmevorschrift zugunsten Behinderter

Laut EuGH erlaubt die Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG den Mitgliedstaaten, zugunsten behinderter Personen eine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die Rechte auf Vervielfältigung und auf öffentliche Wiedergabe vorzusehen. Folglich müsse die vom Marrakesch-Vertrag vorgesehene Ausnahme oder Beschränkung im Rahmen des durch die Richtlinie harmonisierten Bereichs umgesetzt werden. Gleiches gelte für die von dem Vertrag vorgesehenen Aus- und Einfuhrregelungen, da sie darauf abzielten, im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats die öffentliche Wiedergabe oder Verbreitung von in einem anderen Vertragsstaat veröffentlichten Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format zu gestatten, ohne die Zustimmung der Rechtsinhaber einzuholen. 

Marrakesch-Vertrag könnte Urheberrechtsrichtlinie beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern

Zwar verfügten Mitgliedstaaten nach der Richtlinie über die Möglichkeit, eine solche Ausnahme oder Beschränkung vorzusehen, doch handele es sich um eine vom EU-Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, für die streng geregelte unionsrechtliche Voraussetzungen gölten. Der EuGH weist auch darauf hin, dass der Vertrag von Marrakesch im Gegensatz zur Richtlinie eine Verpflichtung (und nicht eine bloße Möglichkeit) vorsehe, zugunsten bestimmter behinderter Personen eine Ausnahme oder Beschränkung einzuführen. Nach Abschluss des Vertrags wären daher alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die Ausnahme oder Beschränkung zugunsten der behinderten Personen vorzusehen. Daraus folge, dass alle vom Marrakesch-Vertrag vorgesehenen Verpflichtungen einen Bereich betreffen, der bereits weitgehend von "gemeinsamen Regeln der Union" erfasst sei, und dass der Abschluss dieses Vertrags diese Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.

Redaktion beck-aktuell, 14. Februar 2017.