EuGH: Arbeitnehmerrechte bei Unternehmensübergang können bei Pre-pack-Vereinbarung infolge Konkurses anzuwenden sein

Die Rechte der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen können bei Vereinbarung eines "Pre-packs“ infolge eines Konkurses anwendbar sein. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden. Ein Konkurs, der im Rahmen eines Pre-packs eröffnet wurde, das die Übertragung eines Unternehmens vorbereiten soll, um einen schnellen Neustart bestandsfähiger Einheiten dieses Unternehmens nach der Konkurseröffnung zu ermöglichen, erfülle gegebenenfalls nicht alle im Unionsrecht aufgestellten Voraussetzungen, heißt es in dem Urteil vom 22.06.2017 weiter (Az.: C-126/16).

Für Neustart neue Gesellschaft gegründet

Bis zu ihrem Konkurs war die niederländische Estro Groep das größte Unternehmen für Kinderbetreuung in den Niederlanden. Sie unterhielt dort etwa 380 Einrichtungen und beschäftigte rund 3.600 Arbeitnehmer. Am 05.06.2014 beantragte sie bei der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) die Bestellung eines in Aussicht genommenen Verwalters, was am 10.06.2014 geschah. Am 20.06.2014 wurde die Gesellschaft Smallsteps gegründet, die einen Großteil der Kindertagesstätten der Estro-Gruppe im Auftrag von H.I.G. Capital (der Schwestergesellschaft des Hauptgesellschafters der Estro-Gruppe, Bayside Capital) zum Neustart übernehmen sollte.

Im Rahmen eines "Pre-pack“ Entlassung von 1.000 Arbeitnehmern

Am 05.07.2014 wurde der Konkurs über das Vermögen der Estro-Gruppe eröffnet. Am selben Tag wurde ein "Pre-pack“ zwischen dem Verwalter und Smallsteps unterzeichnet. Ein "Pre-pack“ soll die Modalitäten zur Übertragung eines Unternehmens im Detail vorbereiten, um einen schnellen Neustart bestandsfähiger Unternehmenseinheiten nach der Konkurseröffnung zu ermöglichen, in dem Bestreben, so zu verhindern, dass die Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens zum Zeitpunkt der Konkurseröffnung abrupt beendet wird. So sollen der Unternehmenswert und die Arbeitsplätze erhalten werden. Am 07.07.2014 entließ der Verwalter alle Arbeitnehmer der Estro-Gruppe. Rund 2.600 Arbeitnehmern, die zuvor bei der Estro-Gruppe beschäftigt waren, wurde von Smallsteps ein neuer Arbeitsvertrag angeboten, während mehr als 1.000 letztlich entlassen wurden.

Entlassene Arbeitnehmerinnen berufen sich auf Rechte bei Unternehmensübergang

Die Federatie Nederlandse Vakvereniging (FNV), eine niederländische Gewerkschaftsvereinigung, sowie vier Arbeitnehmerinnen, die in von Smallsteps übernommenen Einrichtungen tätig waren, denen jedoch nach der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der Estro-Gruppe keine neuen Arbeitsverträge angeboten wurden, erhoben Klage bei der Rechtbank Midden-Nederland (Gericht der zentralen Niederlande). Ihrer Ansicht nach ist eine Richtlinie der Union, die auf den Schutz der Arbeitnehmer abzielt (RL 2001/23/EG), insbesondere dadurch, dass sie die Wahrung ihrer Ansprüche bei einem Unternehmensübergang gewährleistet, auf das zwischen der Estro-Gruppe und Smallsteps vereinbarte Pre-pack anzuwenden. Somit müsse davon ausgegangen werden, dass die vier Arbeitnehmerinnen nun von Rechts wegen zu unveränderten Arbeitsbedingungen für Smallsteps arbeiteten.

Niederländisches Gericht ruft EuGH an

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Midden-Nederland beschlossen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen. Sie möchte wissen, ob die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Schutz der Arbeitnehmer in einer Situation aufrechterhalten wird, in der – wie im vorliegenden Fall – der Übergang eines Unternehmens im Anschluss an einen Konkursantrag im Zusammenhang mit einem Pre-pack stattfindet, das vor dem Konkurs vorbereitet und unmittelbar nach der Konkurseröffnung vollzogen wird.

EuGH hält Rechte aus der Richtlinie für anwendbar

Der EuGH stellt fest, dass das Pre-pack zwar vor dem Konkursantrag vorbereitet, aber danach vollzogen wird. Nach Ansicht des Gerichtshofs kann ein solcher Vorgang, der tatsächlich einen Konkurs impliziert, unter den Begriff "Konkursverfahren“ im Sinne der Richtlinie fallen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch die Rechtbank Midden-Nederland vertritt der EuGH die Auffassung, dass ein solcher Vorgang entgegen dem in der Richtlinie aufgestellten Erfordernis letztlich nicht auf die Liquidation des Unternehmens abzielt, sodass sich mit dem wirtschaftlichen und sozialen Zweck, der damit verfolgt wird, weder erklären noch rechtfertigen lässt, dass die Beschäftigten des betroffenen Unternehmens bei dessen völligem oder teilweisem Übergang die Rechte verlieren sollen, die ihnen die Richtlinie zuerkennt. Der bloße Umstand, dass das Pre-pack auch auf die Maximierung der Abfindung der Gläubiger abzielen kann, könne es nicht in ein Verfahren umwandeln, das zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers im Sinne der Richtlinie eröffnet wurde.

Der Konkurseröffnung vorangehende Phase des Pre-packs ohne gesetzliche Grundlage

Schließlich stellt der Gerichtshof im Hinblick auf die in der Richtlinie aufgestellte Voraussetzung, dass das Konkursverfahren oder das entsprechende Insolvenzverfahren unter der Aufsicht einer öffentlichen Stelle stehen muss, fest, dass die der Konkurseröffnung vorangehende Phase des Pre-packs keine Grundlage in den niederländischen Rechtsvorschriften hat. Dieser Vorgang werde daher nicht unter der Aufsicht des Gerichts, sondern, wie aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, von der Unternehmensleitung durchgeführt, die die Verhandlungen führt und die Entscheidungen zur Vorbereitung des Verkaufs des insolventen Unternehmens trifft.

Aushöhlung der Aufsicht durch zuständige öffentliche Stelle

Auch wenn der in Aussicht genommene Verwalter und der in Aussicht genommene Konkursrichter vom Gericht auf Antrag des insolventen Unternehmens bestellt werden, stünden ihnen nämlich formell keine Befugnisse zu. Daher unterlägen sie keiner Aufsicht durch eine öffentliche Stelle. Da der Verwalter sehr schnell nach der Konkurseröffnung die Zustimmung des Konkursrichters zur Veräußerung des Unternehmens beantragt und erhält, müsse Letzterer außerdem vor der Konkurseröffnung Informationen erhalten und dieser Veräußerung im Prinzip nicht widersprochen haben. Durch diese Vorgehensweise könne aber eine etwaige Aufsicht durch eine zuständige öffentliche Stelle über das Konkursverfahren weitgehend ausgehöhlt werden; sie könne daher nicht der in der Richtlinie genannten Voraussetzung der Aufsicht durch eine solche Stelle genügen.

Pre-pack hier nicht mit Richtlinie vereinbar

Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass ein Pre-pack wie das in Rede stehende nicht alle in der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllt und dass daher von der in ihr vorgesehenen Schutzregelung nicht abgewichen werden kann.

EuGH, Urteil vom 22.06.2017 - C-126/16

Redaktion beck-aktuell, 22. Juni 2017.