BVerfG: Rechtsschutzbeschränkung in § 35 TKG muss wegen geänderter Marktsituation nachgebessert werden

Die Beschränkung des gerichtlichen Rechtsschutzes entgeltregulierter Telekommunikationsunternehmen in § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG, wonach ein klageweise erstrittenes höheres Entgelt Rückwirkung nur dann entfaltet, wenn bereits ein Eilantrag auf eine vorläufige Anordnung eines höheren Entgelts erfolgreich war, ist inzwischen nicht mehr mit der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 22.11.2016 entschieden. Die Regelung leide heute wegen veränderter Märkte an einem Differenzierungsmangel. Das BVerfG hat dem Gesetzgeber daher aufgegeben, die Regelung bis zum 31.07.2018 nachzubessern (Az.: 1 BvL 6/14, 1 BvL 6/15, 1 BvL 4/15, 1 BvL 3/15).

Richtervorlagen zur Beschränkung des Rechtsschutzes entgeltregulierter Telekommunikationsunternehmen in § 35 TKG

Die vier vom Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Verfahren betrafen den Rechtsschutz gegen Entgeltgenehmigungen im Rahmen der telekommunikationsrechtlichen Regulierung. Verfügt ein Unternehmen auf einem bestimmten Markt über beträchtliche Marktmacht, so kann die Bundesnetzagentur diesem Unternehmen insbesondere die Verpflichtung auferlegen, Wettbewerbern gegen Entgelt den Zugang zu bestimmten Einrichtungen oder Diensten zu gewähren. Die Höhe der zu zahlenden Entgelte muss durch die Regulierungsbehörde genehmigt werden. Andere als die genehmigten Entgelte darf das regulierte Unternehmen nicht verlangen.

Rückwirkung per Klage erstrittenen höheren Entgelts nur bei vorherigem erfolgreichem Eilantrag

Genehmigt die Bundesnetzagentur niedrigere Entgelte als vom regulierten Unternehmen beantragt, kann das Unternehmen Klage auf Genehmigung des höheren Entgelts erheben. Hinsichtlich bereits erbrachter Zugangsleistungen nutzt ein Klageerfolg dem regulierten Unternehmen allerdings nur, wenn bereits ein Eilantrag des regulierten Unternehmens auf vorläufige Anordnung eines höheren Entgelts erfolgreich war (§ 35 Abs. 5 Satz 3 TKG). Das Bundesverwaltungsgericht hält die Entgeltgenehmigungen der Bundesnetzagentur in den vier vorgelegten Verfahren für rechtswidrig und ist davon überzeugt, dass § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG insbesondere die Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) verletzt.

BVerfG: Rechtsschutzbeschränkung war ursprünglich zur Wettbewerbsförderung gerechtfertigt

Das BVerfG hat § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG für verfassungswidrig erklärt. Die darin enthaltene erhebliche Rechtsschutzbeschränkung sei mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht mehr vereinbar. Die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolle durch § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG sei in der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung ursprünglich zwar mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar gewesen. Die Regelung diene im Interesse der Allgemeinheit und der Wettbewerber dem legitimen Ziel, nachhaltig wettbewerbsorientierte Märkte der Telekommunikation zu fördern. § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG schränke das Risiko der Wettbewerber ein, Nachzahlungen leisten zu müssen, indem spätere Nachforderungen des regulierten Unternehmens an den Wettbewerber ausgeschlossen seien, sofern keine einstweilige Anordnung ergangen sei. Wettbewerber hätten so mit der erfolglosen Beendigung eines vom regulierten Unternehmen eingeleiteten Anordnungsverfahrens Gewissheit, dass sie keine über die Genehmigung oder die Anordnung hinausgehende Nachzahlung leisten müssen.

Volle Überprüfung im Eilverfahren nicht gleich wirksam

Laut BVerfG lässt sich dieses Ziel nicht ebenso wirksam durch eine Verlagerung der umfassenden Überprüfung der Entgeltgenehmigung in das gerichtliche Eilverfahren erreichen. Der Angleichung der Prüfungsdichte im Eilverfahren an die eines Hauptverfahrens stehe im Fall der Überprüfung von telekommunikationsrechtlichen Entgeltgenehmigungen entgegen, dass sich die hier rechtlich und tatsächlich komplexen Fragen wegen der Eilbedürftigkeit des Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes häufig nicht umfassend beantworten lassen. Angesichts der regelmäßig schwierig zu beurteilenden Sach- und Rechtslage würde eine Pflicht zur vollständigen Prüfung zu einer deutlichen Verlängerung des Eilverfahrens führen. Zweck des § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG sei aber gerade, den Wettbewerbern so schnell wie möglich Gewissheit über die endgültige Entgelthöhe zu verschaffen und Entgeltnachzahlungen auf einen möglichst kurzen Zeitraum zu beschränken.

Auslegung des BVerwG nicht geboten

Das BVerfG fährt fort, dass die Auslegung des BVerwG, wonach eine Anordnung im Eilverfahren im Fall behördlicher Beurteilungsspielräume generell von vornherein ausscheide, weder durch zwingende sachliche Gründe noch durch EU-Recht geboten sei. Deshalb müsse § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG so ausgelegt werden, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vermieden wird. In dieser verfassungsgebotenen Auslegung habe die Ausgestaltung des Rechtsschutzes ursprünglich dem Gebot effektiven Rechtsschutzes genügt. Der sachliche Grund der Regelung, den Wettbewerbern den Markteintritt und den Marktverbleib zu erleichtern und damit den Wettbewerb zu stärken, habe ursprünglich ausgereicht, um die mit § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG verbundene Rechtsschutzbeschränkung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.

Undifferenzierte Rechtsschutzbeschränkung wegen veränderter Märkte nunmehr verfassungswidrig

Anschließend legt das BVerfG dar, dass § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG aber inzwischen verfassungswidrig geworden sei. Die anfänglich verfassungsgemäße Regelung sei nicht mehr mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar. Es sei nicht erkennbar, dass die Regelung zur Förderung des Wettbewerbs noch immer in allen Teilen des Telekommunikationsmarkts zugunsten sämtlicher Wettbewerber erforderlich ist. Die Marktsituation im Telekommunikationssektor habe sich seit Einführung der in Rede stehenden Regelung verändert und dieser die umfassende Berechtigung genommen. Auch die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers trage nicht mehr. Die Regelung knüpfe an die im Zeitpunkt der Gesetzgebung vorgefundene Marktstellung der regulierten Unternehmen und die Finanzschwäche von Wettbewerbern an. Weil es ein zentraler Zweck der Telekommunikationsregulierung sei, diese Marktsituation zu überwinden, dürfe der Gesetzgeber nicht kraft gesetzgeberischer Einschätzungsprärogative an seiner ursprünglichen Einschätzung der Marktsituation festhalten.

BVerfG, Beschluss vom 22.11.2016 - 1 BvL 6/14

Redaktion beck-aktuell, 16. Dezember 2016.