Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen: BGH präzisiert Anforderungen an bindende Patientenverfügung

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 08.02.2017 die Voraussetzungen präzisiert, die eine bindende Patientenverfügung in Bezug auf einen Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen erfüllen muss. Danach könne sich die erforderliche Konkretisierung der Behandlungsentscheidung im Einzelfall auch bei einer weniger detaillierten Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen ergeben, wenn auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen Bezug genommen wird. Ob in solchen Fällen eine hinreichend konkrete Patientenverfügung vorliege, sei durch Auslegung der in der Patientenverfügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln (Az.: XII ZB 604/15).

Wachkoma-Patientin formulierte in Patientenverfügung Bedingungen für Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen

Die 1940 geborene Betroffene erlitt im Mai 2008 einen Schlaganfall und befindet sich seit einem hypoxisch bedingten Herz-Kreislaufstillstand im Juni 2008 in einem wachkomatösen Zustand. Sie wird seitdem über eine Magensonde künstlich ernährt und mit Flüssigkeit versorgt. Bereits 1998 hatte die Betroffene ein mit "Patientenverfügung" betiteltes Schriftstück unterschrieben. In diesem war niedergelegt, dass unter anderem dann, wenn keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins bestehe oder aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibe, "lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben" sollten.

Patientin äußerte mehrfach Sterbewunsch

Zu nicht genauer festgestellter Zeit zwischen 1998 und ihrem Schlaganfall hatte die Betroffene mehrfach gegenüber verschiedenen Familienangehörigen und Bekannten angesichts zweier Wachkoma-Patienten aus ihrem persönlichen Umfeld geäußert, sie wolle nicht künstlich ernährt werden, sie wolle nicht so am Leben erhalten werden, sie wolle nicht so daliegen, lieber sterbe sie. Sie habe aber durch eine Patientenverfügung vorgesorgt, das könne ihr nicht passieren. Im Juni 2008 erhielt die Betroffene in der Zeit zwischen dem Schlaganfall und dem späteren Herz-Kreislaufstillstand einmalig die Möglichkeit, trotz Trachealkanüle zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit sagte sie ihrer Therapeutin: "Ich möchte sterben."

Vorinstanzen lehnten Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ab

Unter Vorlage der Patientenverfügung von 1998 regte der Sohn der Betroffenen im Jahr 2012 an, ihr einen Betreuer zu bestellen. Das Amtsgericht bestellte daraufhin den Sohn und den Ehemann der Betroffenen zu jeweils alleinvertretungsberechtigten Betreuern. Der Sohn der Betroffenen ist, im Einvernehmen mit dem bis dahin behandelnden Arzt, seit 2014 der Meinung, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr solle eingestellt werden, da dies dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen der Betroffenen entspreche. Ihr Ehemann lehnt dies ab. Das Amtsgericht lehnte den Antrag der durch ihren Sohn vertretenen Betroffenen auf Genehmigung der Einstellung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr ab. Das Landgericht wies die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurück. Dagegen richteten sich die Rechtsbeschwerden der Betroffenen und ihres Sohnes.

BGH: Patientenverfügung muss konkrete Behandlungsentscheidung enthalten

Der BGH hat die angefochtene Entscheidung aufgehoben und das Verfahren an das LG zurückverwiesen. Der vom Sohn der Betroffenen beabsichtigte Widerruf der Einwilligung in die mit Hilfe einer PEG-Magensonde ermöglichten künstlichen Ernährung nach § 1904 Abs. 2 BGB bedürfe grundsätzlich der betreuungsgerichtlichen Genehmigung, wenn - wie hier - durch den Abbruch der Maßnahme die Gefahr des Todes droht. Eine betreuungsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB sei jedoch dann nicht erforderlich, wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer bindenden Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 BGB niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. Eine schriftliche Patientenverfügung im Sinne des § 1901a Abs. 1 BGB entfaltet laut BGH aber nur dann unmittelbare Bindungswirkung, wenn ihr konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, bei Abfassung der Patientenverfügung noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können. Dabei dürften die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patientenverfügung aber auch nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden könne nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht.

BGH präzisiert Konkretisierungsanforderungen

Der BGH führt aus, dass er zur erforderlichen Bestimmtheit der Patientenverfügung bereits entschieden habe, dass zwar die Äußerung, "keine lebenserhaltenden Maßnahmen" zu wünschen, für sich genommen keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung enthält, die erforderliche Konkretisierung aber gegebenenfalls durch die Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen oder die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen erfolgen kann (BeckRS 2016, 14029). Diese Rechtsprechung sei dahingehend zu präzisieren, dass sich die erforderliche Konkretisierung im Einzelfall auch bei einer weniger detaillierten Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen durch die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen ergeben kann. Ob in solchen Fällen eine hinreichend konkrete Patientenverfügung vorliege, sei dann durch Auslegung der in der Patientenverfügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln.

Patientin knüpfte Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen an irreversiblen Bewusstseinsverlust

Unter Zugrundelegung dieser Bestimmtheitsanforderungen kommt der BGH zu dem Ergebnis, dass sich das Beschwerdegericht nicht ausreichend mit der Frage befasst hat, ob sich der von der Betroffenen errichteten Patientenverfügung eine wirksame Einwilligung in den Abbruch der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung entnehmen lässt. Denn die Betroffene habe in der Patientenverfügung ihren Willen zu der Behandlungssituation unter anderem an die medizinisch eindeutige Voraussetzung geknüpft, dass bei ihr keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht. Zudem habe sie die ärztlichen Maßnahmen, die sie unter anderem in diesem Fall wünsche oder ablehne, durch die Angabe näher konkretisiert, dass Behandlung und Pflege auf Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein sollen, selbst wenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist. Diese Festlegungen in der Patientenverfügung könnten dahingehend auszulegen sein, dass die Betroffene im Falle eines aus medizinischer Sicht irreversiblen Bewusstseinsverlusts wirksam in den Abbruch der künstlichen Ernährung eingewilligt habe. Ob der derzeitige Gesundheitszustand der Betroffenen im Wachkoma auf diese konkret bezeichnete Behandlungssituation zutrifft, habe das Beschwerdegericht bislang nicht festgestellt. Dies werde es nachholen müssen.

Bei Unmaßgeblichkeit der Patientenverfügung mutmaßlicher Wille zu prüfen

Sollte das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis gelangen, dass der derzeitige Gesundheitszustand der Betroffenen nicht den Festlegungen der Patientenverfügung entspreche, müsse es erneut prüfen, ob ein Abbruch der künstlichen Ernährung dem mutmaßlichen Willen der Betroffenen entspricht. Dieser sei anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere anhand früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, ethischer oder religiöser Überzeugungen oder sonstiger persönlicher Wertvorstellungen der Betroffenen. Entscheidend sei dabei, wie die Betroffene selbst entschieden hätte, wenn sie noch in der Lage wäre, über sich selbst zu bestimmen.

BGH, Beschluss vom 08.02.2017 - XII ZB 604/15

Redaktion beck-aktuell, 24. März 2017.