BVerfG: Rechtsfehlerhafte Nichtzulassung der Berufung

ZPO § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 1, 3; GG Art. 2 I, 20 III

1. Grundsätzliche Bedeutung iSd § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 1 ZPO kommt einer Sache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden oder die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind.

2. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert iSd § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 3 ZPO (ua) dann eine Entscheidung des Berufungsgerichts, wenn in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts abgewichen wird.

3. Liegen die Voraussetzungen des § 511 IV 1 ZPO vor, ist zwingend die Berufung zuzulassen. Eine in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise falsche Anwendung der Vorschriften über die Zulassung der Berufung verletzt als unzumutbare Einschränkung des Zugangs zur Berufungsinstanz die durch die erstinstanzlichen Entscheidung beschwerte Partei in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 I GG iVm Art. 20 III GG. (Leitsätze des Verfassers)

BVerfG, Beschluss vom 04.07.2017 - 2 BvR 2157/15, BeckRS 2017, 117816

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe 

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 18/2017 vom 15.09.2017

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Sachverhalt

Nach einem Verkehrsunfall ließ der Geschädigte sein Fahrzeug von einem Unfallsachverständigen begutachten. Seine Ansprüche auf Erstattung der anfallenden Sachverständigenkosten gegen die gegnerische Haftpflichtversicherung des zu 100% einstandspflichtigen Unfallverursachers trat er an den Gutachter ab, der die Forderung an die spätere Klägerin weiterabtrat. Nachdem die Haftpflichtversicherung die Sachverständigenkosten um bestimmte Nebenkosten für Porto, Telefon, Fotos und Schreibarbeiten gekürzt und iÜ gezahlt hatte, hat die Klägerin wegen der restlichen knapp 60 EUR Klage erhoben.

Das AG hat die Darlegungslast für die objektive Erforderlichkeit der Kosten bei der Klägerin gesehen, die Höhe des entstandenen Schadens unter Heranziehung der Bestimmungen des JVEG auf einen Betrag etwas unterhalb des von der Haftpflichtversicherung bereits gezahlten Betrags geschätzt und die Klage demzufolge abgewiesen (AG Essen-Steele BeckRS 2015, 121639). Die Berufung hat das AG nicht zugelassen und ausgeführt, dass der Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung habe und die Anrufung des Berufungsgerichts auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Vereinheitlichung der Rechtsprechung oder der Fortbildung des Rechts angezeigt sei. Die sich im Verfahren stellenden Fragen seien von der Rechtsprechung vielfach behandelt worden. Eine Einheitlichkeit der Rechtsprechung und eine Fortbildung des Rechts könne auf der Ebene der AG und LG nicht erreicht werden. Das gelte insbesondere für die seit Jahren andauernden Streitigkeiten über die Höhe von Sachverständigenkosten wie auch bezüglich des ähnlichen Streits über die Höhe der Mietwagenkosten. Es halte es deshalb grundsätzlich – von besonderen Ausnahmen abgesehen – nicht für sachgerecht, in diesem Zusammenhang Berufungen zuzulassen. Die Rechtsfortbildung möge auf den Ebenen erstinstanzlicher Rechtsprechung der LG, der zweitinstanzlichen Rechtsprechung der OLG als Berufungsgericht und der revisionsrechtlichen Rechtsprechung des BGH ausgetragen werden. Eine von der Klägerin hiergegen erhobene Anhörungsrüge hat das AG zurückgewiesen (AG Essen-Steele BeckRS 2015, 121640).

Die Klägerin hat hierauf Verfassungsbeschwerde eingelegt. Sie hat eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 I GG und Art. 103 GG gerügt und beanstandet vor allem die Nichtzulassung der Berufung durch das AG. In der Sache rügt sie damit vor allem eine Verletzung des Justizgewährungsanspruchs gemäß Art. 2 I GG iVm Art. 20 III GG, der auch vor einer aus Sachgründen nicht zu rechtfertigenden Erhöhung der Anforderungen aus § 511 IV 1 Nr. 1 ZPO schützt, sowie einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 I 2 GG und das Willkürverbot des Art. 3 I GG.

Entscheidung

Das BVerfG teilt die Auffassung der Klägerin, dass wegen der beiden entscheidungserheblichen Fragen – Verteilung der Darlegungslast bei Abtretung und Heranziehung der Grundsätze des JVEG – die Voraussetzungen für eine Berufungszulassung nach § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 1, 3 ZPO vorlagen. Es sieht demzufolge das AG als verpflichtet an, die Berufung zuzulassen, und führt dies näher aus. In den Erwägungen des AG, hiervon Abstand zu nehmen, sieht das BVerfG eine grundlegende Verkennung der berufungsspezifischen Bedeutung der von ihm entschiedenen Rechtsfragen und damit eine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des Zugangs zur Berufungsinstanz. In der Sache missdeuteten die Erwägungen die Voraussetzungen der – vom AG letztlich vermengten – Zulassungsgründe nach § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 1 ZPO (Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung) und nach § 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 3 ZPO (Zulassung der Berufung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung). Die Annahme, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und eine Fortbildung des Rechts könnten auf der Ebene der Amts- und Landgerichte von vornherein nicht erreicht werden, stelle eine krasse Verkennung des Rechtsmittelsystems der ZPO dar; das AG übersehe vor allem, dass das Berufungsgericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 543 II ZPO verpflichtet sei, die Revision zuzulassen, sodass auf diesem Weg Rechtsfragen, die sich erstmals in amtsgerichtlichen Verfahren stellen, zum BGH gebracht und höchstrichterlich geklärt werden könnten. Die Annahme, eine Berufungszulassung sei nicht notwendig, weil die sich im Verfahren stellenden Fragen von der Rechtsprechung vielfach behandelt worden seien, verkehre die Voraussetzungen der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache (§ 511 IV 1 Nr. 1 Alt. 1 ZPO) in ihr Gegenteil; gerade der Umstand, dass die Gerichtspraxis mit bestimmten – höchstrichterlich ungeklärten – Rechtsfragen häufig befasst werde, sei ein Indiz für deren grundsätzliche Bedeutung. Auch zeuge die Begründung, das AG halte es grundsätzlich für nicht sachgerecht, in diesem Zusammenhang Berufungen zuzulassen, von einem grundlegenden Fehlverständnis des § 511 IV ZPO und seiner norminternen Direktiven aus Art. 2 I GG iVm Art. 20 III GG. Die Regelung normiere zwingende Gründe für die Zulassung der Berufung. Lägen deren Voraussetzungen vor, sei die Berufung stets und nicht nur ausnahmsweise zuzulassen.

Gleichwohl hat das BVerfG aber die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil dies nicht zur Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs der Klägerin aus Art. 2 I GG iVm Art. 20 III GG angezeigt sei. Denn nachdem der BGH die beiden streitigen Rechtsfragen im Jahre 2016 im Sinne des angefochtenen Urteils und entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin geklärt habe (vgl. BGH NJW 2016, 3363 mAnm Wittschier, und BGH NJW 2016, 3092 mAnm Heßeler), sei deutlich abzusehen, dass ihre Klage auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde.

Praxishinweis

Die Entscheidung zeigt, dass sich die Zulassung der Berufung nicht in einem "rechtsfreien Raum" bewegt (vgl. auch BVerfG NJW 2016, 3295 mAnm Toussaint FD-ZVR 2016, 379719). Liegen die Voraussetzungen des § 511 IV 1 ZPO vor, ist die Berufung zwingend zuzulassen (vgl. § 511 IV 1 ZPO: "Das Gericht des ersten Rechtszuges lässt die Berufung zu, wenn …"). Unterbleibt gleichwohl in einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Weise die Berufungszulassung, begründet die hierin liegende unzumutbare Einschränkung des Zugangs zur Berufungsinstanz die erstinstanzlich beschwerte Partei in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 I GG iVm Art. 20 III GG.

Redaktion beck-aktuell, 19. September 2017.