LSG Sachsen: Keine Arbeitsmarktrente bei Aufgabe eines Teilzeitarbeitsplatzes ohne triftigen Grund

SGB VI § 43 II; TV-L § 33 III

Gibt ein teilweise Erwerbsginderter seinen zumutbaren Teilzeitarbeitsplatz ohne triftigen Grund während des laufenden Gerichtsverfahrens auf, ist er so zu behandeln, als hätte er einen solchen Arbeitsplatz noch inne. Der Teilzeitarbeitsmarkt ist für ihn nicht verschlossen und ihm steht lediglich eine teilweise Erwerbsminderungsrente zu. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Sachsen, Urteil vom 05.04.2017 - L 1 R 118/16, BeckRS 2017, 108330

Anmerkung von 
Christian Haidn, wiss. Assistent Universität Mainz

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 11/2017 vom 09.06.2017

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Sachverhalt

Die 1959 geborene Klägerin war seit 1992 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden als Bibliotheksmitarbeiterin beschäftigt. Sie erkrankte im Januar 2012. Diagnostiziert wurden letztendlich eine primäre Fibromyalgie, eine mittelgradig depressive Episode, arterielle Hypertonie, pseudoradikuläres Schmerzsyndrom durch degenerative Veränderungen im Übergang zwischen Brust- und Lendenwirbelsäule, eine Schilddrüsenvergrößerung, leichtes allergisches Asthma Bronchiale sowie eine leichte bronchiale Hyperreagibilität. Aufgrund dieser Erkrankungen beträgt ihr quantitatives Leistungsvermögen drei bis sechs Stunden pro Tag für leichte körperliche Tätigkeiten wie eine Tätigkeit als Bibliotheksfacharbeiterin/Bibliotheksassistentin. Qualitativ ist sie insoweit eingeschränkt, dass ihr keine Arbeiten u.a. im ständigen Sitzen, Gehen oder Stehen und mit Heben von schweren oder mittelschweren Lasten möglich sind. Ihre Arbeitgeberin stellte der Klägerin einen leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung.

Die Beklagte, die Deutsche Rentenversicherung Bund, bewilligte ihr mit Bescheid vom 27.08.2013 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze. D widersprach die Klägerin am 16.09.2013 und begehrte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Nach erfolglos Widerspruch erhob sie Klage vor d SG Dresden. Mit Gerichtsbescheid vom 13.01.2016 wies dieses die Klage ab, wogegen die Klägerin am 11.02.2016 Berufung zum LSG Sachsen einlegte.

Am 30.04.2016 schlossen die Klägerin und ihre Arbeitgeberin einen Aufhebungsvertrag. Die Initiative hierzu ging von der Klägerin aus. Zur Begründung für dieses Vorgehen führte sie an, dass sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen arbeitsunfähig sei.

Entscheidung

Das LSG Sachsen weist die Berufung zurück. Die Voraussetzung des § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sieht es als nicht erfüllt an, da der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin nicht verschlossen ist. Das zeigt sich daran, dass sie bis zum Abschluss der ersten Instanz einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz hatte, den sie erst durch den auf ihre Initiative hin geschlossenen Arbeitsvertrag verlor. 

Auf die Rechtsprechung des BSG, wonach eine Rente wegen voller Erwerbsminderung trotz Leistungsvermögens von drei oder mehr Stunden am Tag auch dann zu gewähren ist, wenn der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, kann sich die Klägerin nicht berufen. Die praktische Verschlossenheit des Arbeitsmarkts ist danach anzunehmen, wenn der Rentenversicherungsträger d Versicherten innerhalb eines Jahres keinen geeigneten Arbeitsplatz anbieten kann (BSG GS, NJW 1977, 2134). Gelingt dies, ist der Arbeitsmarkt auch dann nicht als verschlossen anzusehen, wenn der Versicherte den Arbeitsplatz ohne triftigen Grund ablehnt (BSG, BeckRS 1970, 00288).

D ist der Fall gleichzusetzen, in d der Versicherte einen geeigneten Arbeitsplatz hat und ihn – wie hier – ohne triftigen Grund aufgibt, da es keinen Unterschied macht, ob der Betroffene einen Arbeitsplatz nicht annimmt oder einen vorhandenen aufgibt. In beiden Fällen führt er seine Erwerbslosigkeit schuldhaft herbei, so dass er nicht auf einen für ihn verschlossenen Arbeitsmarkt trifft sondern sich selbst ausschließt.

Die gesundheitlichen Einschränkungen sieht das Gericht nicht als triftigen Grund an, weil die krankenversicherungsrechtliche Arbeitsunfähigkeit auf Dauer nicht zu begründen ist. Folglich kann damit nicht die dauerhafte Aufgabe des Arbeitsplatzes gerechtfertigt werden.

Ruht das Arbeitsverhältnis, kann eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch nicht angenommen werden, wenn der Versicherte keinen Antrag auf Weiterbeschäftigung stellt. Da die Klägerin einen solchen Antrag nicht stellte, kommt es auf eine Entscheidung darüber, ob das Arbeitsverhältnis vorliegend tatsächlich ruht, nicht an.

Das Gericht führt weiter aus, dass das Arbeitsverhältnis auch tatsächlich erst durch den Aufhebungsvertrag und nicht schon vorher nach § 33 Abs. 2 Satz 1 u. 2 TV-L durch Zustellung des Bescheides über die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sein Ende fand, obwohl die Klägerin keinen Weiterbeschäftigungsantrag g. § 33 Abs. 3 TV-L stellte. Das Gericht beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des BAG, das im Urteil vom 23.7.2014 (BAG AP § 14 TzBfG Nr. 120) § 33 Abs. 3 TV-L dahingehend auslegte, dass zum Auslösen der Zweiwochenfrist eine Mitteilung des Arbeitgebers über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses notwendig ist.

Praxishinweis

Die Entscheidung zeigt, dass teilweise Erwerbsginderte ihren Arbeitsplatz nicht ohne triftigen Grund aufgeben sollten. Andernfalls können sie sich nicht auf einen verschlossenen Arbeitsmarkt berufen und die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus dies Grund ist nicht möglich (ausführlich zur Arbeitsmarktrente: Plagann, in: MAH Sozialrecht, 4. Aufl., § 22, Rdn. 63 f.; zur Kritik an dieser Rechtsprechung vgl. Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 356 ff).

Bei Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist auch die Rechtsprechung des BAG zu beachten, wonach das Arbeitsverhältnis ohne Beendigungsmitteilung des Arbeitgebers nicht nach § 33 Abs. 2 Satz 1 TV-L enden kann, da die Frist des § 33 Abs. 3 TV-L erst durch diese in Gang gesetzt wird. Erst bei einer solchen Mitteilung kommt das Ende des Arbeitsverhältnisses und damit ein verschlossener Arbeitsmarkt in Betracht. Allerdings ist zu vermuten, dass die Rechtsprechung in dies Fall die Stellung des Weiterbeschäftigungsantrags g. § 33 Abs. 3 TV-L verlangen wird.

Weiterhin ist auf die Zustimmung des Integrationsamts nach § 92 Satz 1 SGB IX zu achten, wenn das Arbeitsverhältnis nach § 33 Abs. 2 Satz 1 TV-L aufgrund der Gewährung einer Rente wegen teilweiser  Erwerbsminderung enden soll. Wird eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt, bedarf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hingegen keiner Zustimmung.

Redaktion beck-aktuell, 13. Juni 2017.