BGH: Vollstreckungsmaßnahmen alleine erlauben nicht den zwingenden Schluss auf die (drohende) Zahlungsunfähigkeit

InsO § 133 I 2

Setzt ein Gläubiger eine unbestrittene Forderung erfolgreich zwangsweise durch, kann daraus nicht geschlossen werden, dass der Gläubiger die Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung kannte, wenn der Gläubiger außer dieser Forderung und den von ihm zur zwangsweisen Durchsetzung der Forderung unternommenen erfolgreichen Schritten keine weiteren konkreten Tatsachen über die Zahlungsunfähigkeit oder die Vermögenslage seines Schuldners kennt. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urteil vom 22.06.2017 - IX ZR 111/14 (OLG Dresden), BeckRS 2017, 116553

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Karsten Kiesel, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 16/2017 vom 11.08.2017

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Sachverhalt

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der S. GmbH. Die Beklagte, ein Bauunternehmen, verfügte über Werklohnansprüche gegen die S. GmbH aus einer Schlussrechnung vom 4.10.2007. Auf diese erfolgte nach anwaltlicher Mahnung zunächst eine Teilzahlung. Nach Titulierung der Restforderung durch Versäumnisurteil und Zustellung eine Vorpfändung bezahlte die Schuldnerin am 5.6.2008 den Urteilsbetrag nebst Kosten und Zinsen. Nach der anschließenden Betriebseinstellung ist am 24.10.2008 der zur Insolvenzeröffnung führende Antrag gestellt worden. Der Kläger macht die Anfechtbarkeit des gezahlten Betrags geltend.

Das LG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Auf die Revision der Beklagten hat der BGH die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Entscheidung

Der BGH stellte zunächst fest, dass die Anfechtung nicht an einer fehlenden Rechtshandlung des Schuldners iSd § 133 I InsO scheitere. Es genüge, wenn der Schuldner eine Überweisung von einem gepfändeten Konto veranlasse. Bei einer Zahlung auf eine Vorpfändung, wie sie hier erfolgt sei, liege dann erst recht eine Rechtshandlung des Schuldners vor.

Ein Schuldner, der seine Zahlungsunfähigkeit kenne, handle zudem regelmäßig mit Benachteiligungsvorsatz, selbst wenn eine kongruente Deckung vorliege. Von der Kenntnis des Schuldners von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit sei auf Basis des Sach- und Streitstandes auszugehen. Der Kläger habe mehrere seit Anfang 2008 fällige Forderungen verschiedener Gläubiger behauptet, Einwendungen der Beklagten gegen diese Verbindlichkeiten seien nicht ersichtlich.

Allerdings fehle es an der für § 133 I InsO erforderliche Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz. Der Vermutungstatbestand des § 133 I 2 InsO, der eine Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners erfordere, sei nicht erfüllt. Aus der bloßen zwangsweisen Durchsetzung einer Forderung könne nicht auf die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit und somit des Benachteiligungsvorsatzes nach § 133 I 2 InsO geschlossen werden, wenn nicht konkrete Kenntnisse über die schuldnerische Vermögenslage hinzutreten. Dieser Erwägung liege die Wertung zugrunde, dass der Gläubiger, der sich zur Durchsetzung seiner Forderung staatlicher Zwangsmittel bediene, außerhalb des durch die besondere Insolvenzanfechtung geschützten Zeitraums keinen vom Anfechtungsrecht ausgehenden Beschränkungen unterliege. Daher sei auch die Zwangsvollstreckung im Rahmen des § 133 I InsO als kongruent anzusehen. Diese allgemeinen Wertungen wirkten auf den Vermutungstatbestand des § 133 I 2 InsO zurück, der die Überzeugung verlange, dass der Gläubiger positive Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder der Zahlungseinstellung haben müsse.

Die Anforderungen an den Nachweis der dem individuellen Vertrauensschutz des Gläubigers dienenden subjektiven Anforderungen der Vorsatzanfechtung auf Seiten des Gläubigers dürften daher für solche Fälle nicht zu sehr abgesenkt werden. Zu berücksichtigen sei, dass ein Gläubiger in der Lage sein müsse, entweder seine Forderung effektiv durchzusetzen oder einen zulässigen Insolvenzantrag zu stellen. Verfüge der Gläubiger über keine weiteren Erkenntnisse bezüglich der Liquiditätslage des Schuldners, müsse es ihm möglich sein, seine Forderung ohne Anfechtungsrisiko gerichtlich durchzusetzen. Der Schluss auf die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit könne zudem nur bei hinreichend sicherem Ausscheiden anderer Erklärungsmöglichkeiten gezogen werden.

Für den zwingenden Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit sei der Verzug oder die zeitweise Nichtzahlung einer Forderung für sich genommen nicht ausreichend. Solange nicht Maßnahmen zur Forderungseinziehung getroffen würden, deren Erfolglosigkeit Rückschlüsse auf eine ungünstige Vermögenslage des Schuldners ermöglichten, sei aus eigenen offenen Forderungen nicht auf eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit zu schließen. Der Umstand, dass der Schuldner gewerblich tätig sei und daher nach der Senatsrechtsprechung mit weiteren Gläubigern mit ungedeckten Forderungen gerechnet werden müsse, sei kein Indiz für eine Kenntnis des Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit oder der Zahlungseinstellung. Diese Rechtsprechung zur Frage der Kenntnis von der Gläubigerbenachteiligung bei § 133 I 2 InsO setze vielmehr die Kenntnis von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit voraus.

Für eine Kenntnis der Beklagten von der drohenden Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin bestünden keine Anhaltpunkte, da bei der Beklagten keine Umstände über die zukünftige Entwicklung bei der Schuldnerin bekannt gewesen seien.

Praxishinweis

Die besprochene Entscheidung ist im Zusammenhang mit weiteren im zeitlichen Zusammenhang ergangenen Entscheidungen des Neunten Zivilsenats des BGH zur Vorsatzanfechtung von im Rahmen der Zwangsvollstreckung erlangter Zahlungen zu sehen (BeckRS 2017, 114660; BeckRS 2017, 114743). Der Senat scheint die Linie zu verfolgen, Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Vorsatzanfechtung zu entziehen, soweit dies ohne größere Änderungen der bisherigen Rechtsprechung möglich ist. Profitieren können hiervon Gläubiger, die ihre Forderungen konsequent zwangsweise einziehen und damit erfolgreich waren, wenn mehr als drei Monate bis zum Insolvenzantrag vergangen sind.

Dennoch muss die Beitreibung im Rahmen der Zwangsvollstreckung im Vergleich zu einer Zahlungsvereinbarung nicht unbedingt die unter Anfechtungsgesichtspunkten bessere Lösung sein. Zum einen sind die Anfechtungsvoraussetzungen nach § 131 InsO, der auf Vollstreckungsmaßnahmen in den letzten drei Monaten vor einem Insolvenzantrag Anwendung findet, für den anfechtenden Insolvenzverwalter meist leicht darzulegen. Wieviel Zeit zwischen der Vollstreckung und einem Insolvenzantrag liegt, ist für den Vollstreckungsgläubiger nicht beeinflussbar. Zum anderen sind für Zahlungserleichterungen im neu eingeführten und für nach dem 5.4.2017 eröffnete Insolvenzverfahren geltenden § 133 III 2 InsO nF ebenfalls Privilegierungen vorgesehen, die der Gläubiger nutzen kann. Allerdings ist die Reichweite dieser Neuregelung im Einzelnen noch durch die Rechtsprechung zu klären (Thole ZIP 2017, 401 ff.).

Redaktion beck-aktuell, 14. August 2017.