BAG: Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei einer In-Vitro-Fertilisation

BGB §§ 276, 277; EFZG § 3; MuSchG § 3; SGB V § 27a

Die Erfüllung eines Kinderwunsches betrifft die individuelle Lebensgestaltung des Arbeitnehmers und nicht das nach § 3 I 1 EFZG vom Arbeitgeber, als gesetzliche Ausgestaltung seiner Fürsorgepflicht, zeitlich begrenzt zu tragende allgemeine Krankheitsrisiko. (amtl. Leitsatz)

BAG, Urteil vom 26.10.2016 - 5 AZR 167/16 (LAG Schleswig Holstein), BeckRS 2016, 110297

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Frank Merten, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 05/2017 vom 09.02.2017

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über einen Rückforderungsanspruch wegen Entgeltfortzahlung, die der Arbeitgeber im Zusammenhang mit einer In-Vitro-Fertilisationen an die Klägerin leistete. Diese meint, ein Rückforderungsanspruch bestehe nicht und hat dazu ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die in Rede stehenden Zeiträume vorgelegt. Das ArbG hat der Klage z.T. stattgegeben, das LAG die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Entscheidung

Das BAG hat das Urteil des LAG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Klägerin habe ihre Arbeitsunfähigkeit i.S.d. EFZG bisher nicht schlüssig dargelegt. In der Regel sei der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zwar durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Im konkreten Fall sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aber durch den eigenen Sachvortrag der Klägerin erschüttert. In den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen werde als Ursache der Arbeitsunfähigkeit „medizinische Eingriffe im Rahmen von In-Vitro-Fertilisationen bzw. der Schutz des ungeborenen Lebens“ genannt. Daraus ergeben sich gewichtige Indizien für die Annahme, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jedenfalls nicht durchgehend wegen zur Arbeitsunfähigkeit führender Erkrankungen der Klägerin erteilt worden seien (Rn. 18). Ein Entgeltfortzahlungsanspruch käme nur in Betracht, wenn bei der Klägerin ein krankhafter Zustand bestand, der zur Arbeitsunfähigkeit führte. Die Klägerin könne entgeltfortzahlungsrechtlich aber nicht allein auf Grund der Unfruchtbarkeit ihres Partners als „krank“ angesehen werden. Zwar seien Empfängnis- und Zeugungsunfähigkeit bei erwachsenen Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter negative physische Abweichungen vom regelgerechten Körperzustand und daher Krankheiten i.S.d. des EFZG. Keine Krankheit sei aber der allein durch die Zeugungsunfähigkeit des Partners bedingte unerfüllte Kinderwunsch der Klägerin (Rn. 23). Zudem käme ein Entgeltfortzahlungsanspruch nur bei unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit in Betracht (Rn. 29). Ob ein anspruchsausschließendes Verschulden i.S.v. § 3 I 1 EFZG vorliege, hänge davon ab, ob die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als vorhersehbare, willentlich herbeigeführte Folge einer komplikationslosen In-Vitro-Fertilisation eintritt oder sich Krankheitsrisiken realisieren, die mit der künstlichen Befruchtung oder einer ggf. durch sie bewirkten Schwangerschaft einhergehen. Ein Verschulden i.S.v. § 3 I 1 EFZ liege nur vor bei einem „Verschulden gegen sich selbst“, also bei einem groben oder gröblichen Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen. Dabei sei i.S.d. Gesetzes das zu wahrende Eigeninteresse allein das Interesse des Arbeitnehmers, seine Gesundheit zu erhalten und zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankungen zu vermeiden. Kein Eigeninteresse i.S.v. § 3 I 1 EFZG sei deshalb die Erfüllung eines Kinderwunsches. Er betreffe die individuelle Lebensgestaltung des Arbeitnehmers und nicht das vom Arbeitgeber zeitlich begrenzt zu tragende allgemeine Krankheitsrisiko (Rn. 38). Da in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als Grund der Arbeitsunfähigkeit auch der „Schutz des ungeborenen Lebens“ genannt sei, könne auch ein Anspruch der Klägerin auf Mutterschutzlohn nach § 11 MuSchG i.V.m. § 3 I MuSchG in Betracht kommen und zwar für Zeiträume nach dem sog. Embryonentransfer, der bei einer In-Vitro-Fertilisation als Beginn der Schwangerschaft anzusehen sei, soweit nach ärztlichem Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet seien (Rn. 56).

Praxishinweis

Das BAG führt seine Rechtsprechung zu § 3 I 1 EFZG fort (vgl. BAG, FD-ArbR 2015, 368366 m. Anm. Bauer) und nimmt zu der insbesondere im juristischen Schrifttum umstrittenen Frage Stellung, ob eine durch In-Vitro-Fertilisation verursachte krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit verschuldet i.S.v. § 3 I 1 EFZG ist. Es erteilt der häufig vertretenen These, ein Verschulden läge nicht vor, wenn die Voraussetzungen des § 27a SGB V erfüllt seien, eine Absage (Rn. 40). Beachtlich ist außerdem, dass das BAG hohe Anforderungen an die Darlegungslast der Arbeitnehmerin stellt und verlangt, dass sie Zeitpunkt und Ablauf der In-Vitro-Fertilisationen unter Angabe der im Einzelnen vorgenommenen Maßnahmen und Eingriffe sowie ihrer Folgen darlegt (Rn. 48). Die bloße Vorlage ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist also nicht ausreichend.

Redaktion beck-aktuell, 14. Februar 2017.